Von Sonja Wenger — Was ist Loyalität? Wie weit geht sie? Und vor allem: Wem oder was «schuldet» man sie? Seiner Familie? Gewiss. Seinem Land? Vielleicht. Dem Glauben? Je nachdem. Klar ist: Solche Fragen sind schon unter normalen Umständen schwer zu beantworten. Beinahe unmöglich wird es jedoch, wenn sie sich im Kontext eines bewaffneten Konflikts stellen, bei dem Loyalität gegenüber der einen Seite automatisch den Verrat an der anderen bedeutet.
Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich der Film «Shadow Dancer» und seine Protagonistin Collette McVeigh (Andrea Riseborough). Collette ist eine junge Frau aus Nordirland, die in den sechziger Jahren in eine Familie militanter IRA-Kämpfer geboren worden ist, und schon als Kind unter den Folgen des blutigen Bürgerkriegs leiden musste, etwa als ihr kleiner Bruder 1973 auf der Strasse erschossen wird.
Auch zwanzig Jahre später scheint es bei den McVeighs keine Alternative zur Gewalt zu geben. Obwohl die IRA inzwischen über ein Friedensabkommen mit der britischen Regierung verhandelt, kämpfen die Brüder Gerry und Connor wie einst der Vater weiter gegen die britische Besatzung – und selbst Collette, inzwischen Mutter eines kleinen Sohnes, hat wohl nicht wenig Blut an den Händen. Schon lange ist sie zerrissen durch den inneren Konflikt, sich gegenüber ihrer Familie loyal verhalten zu müssen, und dem Wunsch, ihrem Sohn ein besseres Leben ohne Gewalt bieten zu können.
Als sie in London eine Bombe in der U‑Bahn legen will, wird sie vom britischen Geheimdienst MI5 festgenommen, der Collette schon lange beobachtet hatte. Der MI5-Offizier Mac (Clive Owen) stellt sie vor die Wahl: Entweder sie spioniert ihre eigene Familie aus, oder sie erhält eine lebenslange Haftstrafe und sieht ihren Sohn nie wieder. Widerstrebend willigt Collette ein und kehrt nach Nordirland zurück. Doch bereits ihre erste Information führt zu einer Kaskade fataler Ereignisse – und schon bald fällt innerhalb der IRA der Verdacht auf die McVeighs.
«Shadow Dancer» basiert auf dem gleichnamigen Roman des britischen Journalisten und Schriftstellers Tom Bradby, der einige Jahre als Korrespondent aus Irland berichtet und dabei besonders den nordirischen Friedensprozess begleitet hatte. Regisseur James Marsh hat daraus ein überzeugendes, intelligentes und eindrückliches Psychogramm von Menschen geschaffen, die längst keine Wahl mehr haben, auf welcher Seite sie stehen, und die doch, oder eben gerade deshalb, mutige Entscheidungen treffen müssen.
Der Film kommt dabei fast gänzlich ohne Gewaltszenen aus. Die teils extremen Konfrontationen finden zwischen den Zeilen von vordergründig freundlichen und ruhigen Gesprächen statt. Einmal mehr zeigt sich, dass irische Geschichten mit einfachsten Mitteln Grosses bewegen können. Gepaart mit einigen fantastischen schauspielerischen Leistungen, die dem Wort «undurchschaubar» eine neue Dimension verleihen, vermag «Shadow Dancer» deshalb tief zu berühren und wird wohl bei vielen noch lange nachklingen.
«Shadow Dancer», Grossbritannien/Irland 2012. Regie: James Marsh. Länge: 102 Minuten.
Foto: zVg.
ensuite, August 2013