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Si j’aurais su, j’aurais pas venu

Von Peter J. Betts — «Si j’aurais su, j’aurais pas venu» ist ein Satz, der mich seit gut fün­fzig Jahren begleit­et, gesprochen von P’tit Gibus. Er begleit­et mich nicht nur als nachträglich­er Protest gegen Franzö­sisch-Pauk­er, die über ein Jahrzehnt lang ver­sucht hat­ten, mir fol­gende Idi­otie einzubläuen: «Si» und «rais» macht Ohren­weh! Noch heute sehe ich ganz deut­lich P’tit Gibus nackt? halb­nackt?, jeden­falls ohne Hosen­träger vor mir, wie er mit Trä­nen in den Augen diesen weisen Satz ausspricht. (Vielle­icht ist das mit den Trä­nen auch ein nachträglich­es Auss­chmück­en des realen Bildes, weil so Trauer, Ent­täuschung und Protest im Gesicht des kleinen Knaben für mich im Gedächt­nis noch aus­drück­lich­er unter­strichen wer­den…) Der Schwarz-Weiss-Film hiess «La guerre des bou­tons» und wurde in den sehr frühen Sechziger Jahren unter der Regie von Yves Robert pro­duziert, die gelun­gene Ver­fil­mung eines Jahrzehnte vorher erschienen Romans. «La guerre des bou­tons» han­delt vom Stre­it der Jungs aus den zwei Nach­bardör­fern Longuev­erne und Ver­lans; dabei geht es weniger um Würde als um «Ehre der bei­den Dör­fer», let­ztlich also um das Klis­chee von Helden­tum und Pres­tigezwang. Nach­bardör­fer, die sich je pro­fil­ieren wollen oder müssen, gegen das zwei-drei Kilo­me­ter ent­fer­nte. (Etwa in der gle­ichen Zeit, als der Film gedreht wurde, war ich Lehrer in Jegen­storf; im Wäld­chen zwis­chen Jegen­storf und Ball­moos sass meine Klasse beim Zeich­nen; plöt­zlich: Rascheln im Gebüsch, Schimpf­worte, hämis­ches Gelächter; ich blicke ver­wirrt hin, eines der Mäd­chen beruhigt mich: «Wis­sen Sie, es sind nur die von Ball­moos, in Ball­moos spin­nen sowieso alle.» Rohrbach­graben – Rohrbach; Aumatt – Kapel­len­ring; Mat­te – Junkern­gasse.) Im Film ging es aber tat­säch­lich auch um ein paar Sachver­halte, die sich als geeignete Kristalli­sa­tionskerne für ein mächtiges Gewit­ter nutzen liessen. Jungs aus dem einen Lager hat­ten jenen aus dem anderen bei ein­er Wohltätigkeitssamm­lung durch einen pfif­fi­gen Stre­ich die Kund­schaft weggeschnappt und mit hohen Ein­nah­men bril­liert, was natür­lich nach Rache schrie. Krieg. (Die Vor­lage des Films, also der Roman, war kurz vor dem ersten Weltkrieg erschienen, und trug so als Sub­text ein­er – lusti­gen – Jun­gen-Geschichte in sich einiges an Analy­sen von Mech­a­nis­men der Eifer­sucht zwis­chen benach­barten Natio­nen und an prophetis­chen Inter­pre­ta­tio­nen zu den Ereignis­sen, die via Gasexzesse an der West­front schliesslich zum «Frieden von Ver­sailles» und damit um Zweit­en Weltkrieg führten. Der Roman war nach fün­fzig Jahren noch oder wieder hoch aktuell, wie es der Film heute auch noch ist, wenn man sich beispiel­sweise die Ergeb­nisse oder den Ver­lauf der let­zten inter­na­tionalen Kli­ma-Kon­ferenz, im Jahre des Her­rn 2013, durch den Kopf gehen lässt. Nein: der Roma­nau­tor hat­te die Demarka­tion­slin­ie zwis­chen Süd- und Nord­ko­rea oder die Mauer zwis­chen Ost- und West­ber­lin konkret wohl nicht voraus­ge­se­hen.) Krieg zwis­chen der Jung­mannschaft zweier Nach­bardör­fer. Im einen Dorf hat­te man eine beson­ders per­fide Strate­gie entwick­elt, näm­lich, den gefan­genen Geg­n­ern Hosen­träger und alle Knöpfe abzuschnei­den, damit sie nicht nur entwürdigt, son­dern von den eige­nen Eltern gnaden­los ver­prügelt wür­den, weil sie nicht ein­mal zu den eige­nen, in ein­er eher ärm­lichen Gegend kost­baren Klei­dern Sorge tra­gen kon­nten. Gegen­reak­tion: der näch­ste Angriff erfol­gte nackt, führte zwar zum Sieg, war aber nur halb befriedi­gend, weil die Win­terkälte wirkungsvoller war als die Sieges­freude. Neue Strate­gien. Eskala­tion. Zer­störung der Hütte der einen Gruppe durch den elter­lichen Trak­tor des Rädels­führers aus dem Nach­bar­dorf; der Trak­tor war kein wirk­lich­er Panz­er und wurde demzu­folge durch den brachialen Angriff beschädigt. Bei­de Rädels­führer wur­den von ihren Vätern blau und grün geschla­gen – nach­dem auch die Eltern bei­der Dör­fer gegeneinan­der sehr tätlich gewor­den waren, die Dorf­fe­hde aber bei Rotwein beigelegt hat­ten. Die bei­den ver­fein­de­ten Pro­tag­o­nis­ten, die ihre Eltern päd­a­gogisch über­fordert hat­ten, begeg­nen einan­der als Straf­ver­set­zte in einem Inter­nat, wo sie gute Fre­unde wer­den – Gemein­sam gegen die Pauk­er? Feind­bilder verbinden. P’tit Gibus ist nicht ein­er der Pro­tag­o­nis­ten, aber eine zen­trale Neben­fig­ur, vielle­icht wie die Lesende oder der Lesende oder der Schreibende dieses Textes. Die Fest­stel­lung des ent­täuscht­en Kleinen: Ein weis­er Satz, der sich quer zu den gängi­gen Regeln der Syn­tax stellt? P’tit Gibus mag von Gram­matik oder Syn­tax keine grosse Ahnung haben, aber er spricht, weil er etwas zu sagen hat, und das sagt er auch: «Si j’aurais su, j’aurais pas venu.» Er ste­ht da: ohne Hosen­träger, mit abgeschnit­te­nen Hosenknöpfen und schämt sich vor der eige­nen Nack­theit. Hand aufs Herz: Wer hat sich – möglicher­weise mit sehr viel Enthu­si­as­mus, Ein­satz, Vorstel­lun­gen von «wesentlichen Zie­len» – nicht schon auf etwas ein­ge­lassen, bei dem es kein Zurück gibt, und man sich sich­er nie darauf ein­ge­lassen hätte, wenn man gewusst hätte, wie es her­auskom­men würde? Sie sehen, ich ver­wende syn­taxgerecht den Kon­junk­tiv. Der stu­pide Analogsatz auf Deutsch lautet: Nach «wenn», nie «würde». Als ob Würde etwas mit Kon­junk­tio­nen zu tun hätte. Würde, als Men­schen­recht ver­standen, ist zwar lei­der ein­deutig ein Kon­junk­tiv oder illu­sion­strächtiger Opta­tiv und hängt wohl tat­säch­lich von vie­len Kon­junk­tio­nen und auch Kon­di­tio­nen ab. Eher Wun­schform als Möglichkeits­form? Gram­matik und Syn­tax: nur ein Werkzeug, um über Sprache zu reden? Oder gar eine schmale, schwank­ende Hänge­brücke, damit man zu Fuss tat­säch­lich schein­bar defin­i­tiv getren­nte Seit­en zu Fuss erre­ichen kann? Man kann sich dur­chaus vornehmen, etwas schein­bar Unmöglich­es möglich zu machen, vielle­icht nur, um festzustellen, dass es anscheinend tat­säch­lich unmöglich ist. Man kann zum Beispiel ver­suchen, das Stadtthe­ater ein­er Region mit genü­gend finanziellen Mit­teln auszus­tat­ten, auf dass es zur Brut­stätte für die Kreativ­ität ein­er Region wird. Opta­tiv: der Grossteil der Kün­st­lerin­nen und Kün­stler ein­er Region erfahren dieses Haus als Heim­stätte, wo eigene Pro­jek­te über die Sparten hin­weg entwick­elt wer­den kön­nen, wo sie am Entste­hen der Pro­jek­te beteiligt sind, auch wenn diese von anderen Kol­legin­nen und Kol­le­gen real­isiert wer­den, wo gemein­same (Streit)Gespräche zu gemein­samen schöpferischen Erken­nt­nis­sen führen, die auch ausser­halb der Brut­stätte real­isiert wer­den; wo der Grossteil der Bevölkerung aktiv mit Leib und Seele teil­nimmt, Kreativ­ität zu gemein­samem Besitz wird? Indika­tiv: Das The­ater pro­duziert nach wie vor auss­chliesslich für «The­ater heute» (ohne je darin auch nur erwäh­nt zu wer­den); die Ein­trittspreise steigen und steigen, dass nur noch eine Geldelite sich die Besuche leis­ten kann, um Edel­langeweile zu geniessen; die Kun­stschaf­fend­en scheren sich eben­so einen Deut um den Musen­tem­pel wie der Grossteil der Bevölkerung; das Haus ist nicht ein­mal mehr Pres­ti­geob­jekt für sich stre­i­t­ende poli­tis­che Parteien. Kön­nen Sie sich vorstellen, dass die oder der Kul­turbeauf­tragte früher oder später sagt: «Si j’aurais su, j’aurais pas venu.» Oder, vielle­icht schw­er­wiegen­der: wenn der Vorzeigeschoko­laden­her­steller ein­er Nation zum nation­al, inter­na­tion­al, glob­al bes­tim­menden Nahrungsmit­tel­pro­duzen­ten gewor­den ist; sich darauf konzen­tri­ert, die Wasser­rechte in unter Trock­en­heit lei­den­den Gebi­eten aufzukaufen; ein lukra­tiv­er Glob­al Play­er bei den Ärm­sten der Armen wird? Schüt­teln Sie nur entset­zt den Kopf, bevor Sie sich zur ver­di­en­ten Nachtruhe hin­le­gen? Wür­den Sie tat­säch­lich die Schoko­lade der ursprünglichen Vorzeige-Marke und jene der gewinnbrin­gend Aufgekauften noch kaufen, wenn sie die Zusam­men­hänge gekan­nt hät­ten? Auch hier: «Si j’aurais su, j’aurais pas venu»?

Foto: zVg.
ensuite, Jan­u­ar 2014