Seine Karriere verlief zunächst ungewöhnlich: Als kleiner Junge entdeckte er durch Grammophonplatten seine Begeisterung für Musik. Den Entschluss, diese Kunst zum Beruf zu wählen, fasste der Dreizehnjährige nach dem Anhören der Achten Symphonie von Beethoven. Er erlernte das Klarinettenspiel, und schon bald wurde Dirigieren sein Ziel. Doch das Royal College of Music in London war nicht bereit, ihn in der Dirigentenklasse aufzunehmen. Als (hanebüchener) Grund wurde angegeben, dass er kein Pianist sei…
A propos Beethoven: Unvergesslich bleibt mir eine Aufführung der Neunten in der Royal Festival Hall, London, am 4. Novemeber 1970, mit dem von Davis dirigierten BBC Symphony Orchestra, dessen Chefdirigent er damals war. Es gibt Konzerte, die einen Menschen fürs Leben prägen: dies war so ein Moment…
Zurück zu den späten Vierziger Jahren: Davis gab Unterricht und dirigierte u.a. die Chelsea Opera Group. Außerdem blieb er, als gelegentlicher Orchestermusiker, der Klarinette treu. Ein großes Repertoire zu erlernen hatte er ab 1957 als Assistant Conductor des BBC Scottish Symphony Orchestra Gelegenheit.
Der große Durchbruch jedoch kam in Form eines «doppelten Einspringens»: Otto Klemperer musste aus Gesundheitsgründen eine konzertante Don Giovanni-Aufführung mit anschließender Plattenaufnahme absagen. Carlo Maria Giulini sprang ein, war aber am Konzertdatum nicht frei… Davis’ Erfolg war beträchtlich. Sadler’s Wells Opera, das BBC Symphony Orchestra London, das Royal Opera House Covent Garden, Boston, Amsterdam, München, Dresden wurden einige der Hauptstationen seiner Karriere. Sein Repertoire war sehr groß, im Mittelpunkt aber standen Mozart (von Anfang an!), Berlioz und Tippett.
Nach Anfangsjahren, in denen sein Überschwang manchmal in Unfreundlichkeit den Orchestern gegenüber ausartete, wurde er ein psychologisch sensibler Dirigent und von den Musikern entsprechend geliebt. Drängende Energie, ausladende Bewegungen, totales Engagement in Allem was er tat charakterisierten sein Musizieren in Oper und Konzert.
Die von ihm ins Leben gerufene Berlioz-Renaissance beschämte manch einen französischen Musiker: «C’est un Anglais qui fait connaître un de nos plus célèbres compositeurs…». Tippetts Karriere hat er mit beispielhafter Treue begleitet und unterstützt. Aber immer wieder kehrte er zu Mozart zurück. 1980 wurde er von der Königin geadelt.
Zwei CD-Sammlungen lassen uns Sir Colin am Anfang und am Ende seiner Karriere erleben: Eine Box mit 6 CDs aus der EMI-Serie Icons bringt Aufnahmen mit diversen Londoner Orchestern aus den Jahren 1959 bis 1963. Viel Mozart natürlich: transparent, schwungvoll aber nie verhetzt, in den langsamen Sätzen sehr kantabel. Ein besonderer Leckerbissen ist die Aufnahme des Oboenkonzertes mit dem legendären Leon Goossens. Sein Spiel ist prägnant, mit recht scharfen Phrasierungen und viel Staccato. Ungewöhnlich, aber faszinierend! Die Tempi sind eher gemächlich, Goosens Kadenzen von großer Originalität.
Auch Berlioz ist vertreten mit einer Aufnahme von Harold en Italie. Das Bratschensolo spielt kein Geringerer als Yehudi Menuhin. Von Tippett enthält die Sammlung das Klavierkonzert, ein sehr lyrisches Werk, das für den Zuhörer zugänglich, für die Interpreten aber äußerst schwierig ist. Der Pianist John Ogdon, der immer für seltener gespielte Werke zu gewinnen war, sowie Davis mit dem Philharmonia Orchestra, überspringen auch diese Hürde mit großem Erfolg.
Ein weiterer Höhepunkt ist die fast kammermusikalische Interpretation von Brahmsens Haydn-Variationen mit dem Sinfonia of London. Geradezu unübertrefflich – und vom gleichen Orchester gespielt – ist das 1960 aufgenommene Siegfried-Idyll von Wagner. Eine völlig ausgereifte Interpretation mit Melodienseligkeit, Klangschönheit und Gefühlstiefe, die aber nie ins Pathetische oder Sentimentale abgleitet. Auch der Humor kommt – in den Vogelstimmen – nicht zu kurz. Kleine Temposchwankungen, eine Gewohnheit, die später in Einzelfällen problematisch werden konnte, sind hier ganz organisch eingebaut und erhöhen die Spannung. Ein absolutes Muss!
In die Spätphase der Karriere von Sir Colin führt uns eine Sammlung von 6 CDs der Firma Profil/Hänssler. Sie enthält Konzertmitschnitte aus den Jahren 1992 bis 2003, aufgenommen in der Dresdener Semperoper mit der Staatskapelle Dresden, deren Ehrendirigent Davis 1991 wurde.
Das Programm ist ganz der Romantik und Spätromantik verhaftet. Es beginnt mit der ersten Symphonie von Sir Edward Elgar. Die Interpretation ist sehr langsam und pathetisch, was Elgars Musik einfach nicht verträgt. Auch das Zusammenspiel ist nicht immer ideal, was durch ein wenig transparentes Klangbild noch verstärkt wird.
Bei Mendelssohns «Schottischer» treten die bereits erwähnten Temposchwankungen vermehrt auf, diesmal zum Nachteil der Architektur des Stückes. Gewisse Stilmittel passen eben nicht zu allen Werken…
Großartig hingegen Schuberts «Unvollendete», die man noch selten mit solcher Intensität gehört hat. Der gänzlich abgeklärte Schluss ist unglaublich, und man versteht, warum das Werk hier einfach nicht weitergehen kann! Die dynamische Bandbreite vom fast unhörbaren Pianissimo bis zum glanzvollen Fortissimo ist schier unglaublich.
Auf der gleichen CD finden wir eine beeindruckende Aufführung der Dritten Symphonie von Brahms, in einer gelungenen Mischung von Leidenschaft und Melancholie – getreu dem Motto des Werkes: «frei aber einsam». Die auch hier liebevoll praktizierten kleinen Verzögerungen sind so natürlich, dass sie dem Hörer bald als unerlässlich erscheinen. Die aussergewöhnliche Qualität der Staatskapelle, die mit dem Dirigenten eine wahre Symbiose bildet, machen auch diese Aufführung zu einer Sternstunde.
Dass Sir Colin Davis auch eine sehr tiefe Beziehung zur Musik von Jean Sibelius hatte, beweist eine Aufführung von dessen Zweiter Symphonie aus dem Jahre 1988. Auf bewundernswerte Weise meistern Dirigent und Orchester sowohl die zahlreichen, oft abrupten Stimmungswechsel, wie die Steigerung im Schlusssatz, all dies ohne übertriebenes Pathos.
Über die Interpretation der großen Totenmesse von Berlioz will ich mir kein Urteil erlauben, da ich zu diesem Werk keinen Zugang finde. Die Seelen von Hector Berlioz und Colin Davis mögen es mir verzeihen!
- Colin Davis – the Early Recordings EMI Classics // 6 CDs 4 63989 2
- Sir Colin Davis – Staatskapelle Dresden Profil Hänssler // 6 CDs PH 13032
- Dazu zwei empfehlenswerte DVDs mit Sir Colin: Das a‑moll-Violinkonzert von Bach mit David Oistrach und dem English Chamber Orchestra (London 1961) findet sich auf EMI classic archive DVA 4928369.
- Beethovens Violinkonzert mit Yehudi Menuhin und dem London Symphony Orchestra (London 1962) ist Teil der DVD EMI classic archive DVB 4928449.
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2013