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Slumdog Millionaire

Von Son­ja Wenger — Wohl kaum ein Men­sch träumt heute noch den Traum, es vom Teller­wäsch­er zum Mil­lionär brin­gen zu wollen. Vielmehr scheint das grosse Geld darin zu liegen, was jemand vor allen anderen weiss. Das britis­che Sende­for­mat «Wer wird Mil­lionär», das inzwis­chen in 107 Län­dern aus­ges­trahlt wird, ist der beste Beweis dafür. Seit zehn Jahren fiebert das Pub­likum mit jen­er Per­son auf dem heis­sen Stuhl mit, deren Wis­sen oder meist Nichtwissen so vor der ganzen Nation aus­ge­bre­it­et wird.

Nun bringt der britis­che Regis­seur Dan­ny Boyle mit «Slum­dog Mil­lion­aire» die span­nende und aufwüh­lende Ver­fil­mung ein­er Geschichte ins Kino, die in ihrem Kern um die indis­che Ver­sion von «Who wants to be a Mil­lion­aire» kreist. Der Film basiert auf dem Roman «Rupi­en, Rupi­en» («Q & A» im englis­chen Orig­i­nal) des indis­chen Autors Vikas Swarup und erk­lärt in biografis­chen Rück­blick­en, wieso ein Junge aus den Slums von Bom­bay es schafft, in der Sendung jede einzelne Frage richtig zu beant­worten.

«Slum­dog Mil­lion­aire» zeigt, dass Bil­dung ein rel­a­tiv­er Begriff ist und dass so manch­es Wis­sen mit Blut, Schmerz und Trä­nen erkauft wird. Das Pub­likum wird mit enormer Wucht in einen der drama­tis­chsten Momente von Jamal Maliks (Dev Patel) Leben gewor­fen. Gän­zlich ohne Vorge­plänkel ste­ht Jamal schon in der ersten Film­szene vor der let­zten Frage, die entschei­det, ob der mausarme Teeträger plöt­zlich zum Mil­lionär wird. Wieso er es über­haupt soweit gebracht hat, welche Rolle dabei sein Brud­er Sal­im und Jamals ver­lorene Liebe Lati­ka spie­len und weshalb er es schlussendlich doch schafft, obwohl er die Antwort nicht weiss, erzählt Regis­seur Boyle in der Folge mit ein­er ein­dringlichen Bild­sprache und einem umw­er­fend­en Humor.

Der Film ist ein kleines Meis­ter­w­erk. Nicht nur, weil «Slum­dog Mil­lion­aire» in jed­er denkbaren Hin­sicht bei Kam­era, Schnitt oder Musik gut gemacht ist und die Rollen ein­dringlich gespielt wer­den. Er ist es, weil ihm das sel­tene Kun­st­stück gelingt, mit ein­er eigentlich banalen Geschichte ein ganzes Kalei­doskop aus Schick­salen und men­schlichen Charak­teren zu ver­weben. Dabei hat Boyle auch noch die Chronolo­gie der Ereignisse kom­plett, aber völ­lig stim­mig auf den Kopf gestellt und ein Film­doku­ment ohne verk­lären­den oder beschöni­gen­den Blick über das echte Indi­en geschaf­fen, dass so noch sel­ten zu sehen war, vor allem nicht im Kino.

Möglich wurde dies, da «Slum­dog Mil­lion­aire» an Orig­i­nalschau­plätzen unter anderem in Bom­bays Slum Juhu gedreht wurde, was eher ungewöhn­lich ist, dem Film aber einige sein­er wirkungsvoll­sten Bilder ver­schafft. Boyle, der zuvor noch nie in Indi­en gewe­sen war, hat­te sich als Aussen­ste­hen­der zudem die Per­spek­tive und den Blick für das Aussergewöhn­liche genau­so wie für das Alltägliche bewahrt. Dadurch hal­ten sich im Film die Fasz­i­na­tion über die laut Boyle «ver­rück­te Energie, die Schwingun­gen und das Rauschhafte von Bom­bay» stets die Waage mit der bein­harten Real­ität Indi­ens. Ein Mix, der verblüf­fend gut funk­tion­iert.

Es ist spür­bar: Hier waren Profis am Werk. So hat Regis­seur Boyle schon in Fil­men wie «Trainspot­ting», «The Beach» oder «28 Days lat­er» gezeigt, dass er umzuge­hen weiss mit der implo­siv­en Dynamik bei Men­schen, die gezwun­gen durch äussere Umstände über sich selb­st hin­auswach­sen müssen. Und auch Drehbuchau­tor Simon Beau­fort hat sein begabtes Händ­chen bere­its bei «The Full Mon­ty» zeigen kön­nen. Um der Geschichte noch mehr Authen­tiz­ität zu ver­schaf­fen, hat­te Beau­fort indis­che Strassenkinder inter­viewt und ihre Sicht der Welt in das Drehbuch ein­fliessen lassen. Beson­ders beein­druckt war er vom «Aus­mass an Spass, Gelächter, Geschnat­ter und einem Sinn für die Gemein­schaft in den Slums. Dort find­et sich jede Menge Lebensen­ergie.»

Die Rollen von Jamal, Sal­im und Lati­ka wer­den in den drei Altersstufen von unter­schiedlichen Schaus­piel­ern dargestellt, die den­noch mit grösster Leichtigkeit ineinan­der zu ver­schmelzen scheinen. Gar­niert wird der unter­halt­same und kurzweilige «Slum­dog Mil­lion­aire» zusät­zlich mit dem wun­der­baren Irrfan Khan («The Name­sake») als Polizei­in­spek­tor, der Jamal ver­hört und einem her­rlich janusköp­fi­gen Anil Kapoor als Mod­er­a­tor der Sendung. Ger­ade diese bei­den indis­chen Bol­ly­wood­stars, die auch jen­seits des grossen Hur­ra-Show­busi­ness funk­tion­ieren, beweisen hier nur zu gerne, dass in Indi­en dur­chaus leis­ere Töne möglich sind. Den­noch lässt es sich auch dieser Regis­seur nicht nehmen, eine jen­er für Bol­ly­wood so typ­is­chen Musi­cal­szenen einzubauen. Doch wie beim ganzen Film kön­nte sich auch hier so manch­er Filmemach­er eine Scheibe abschnei­den in Bezug auf Tim­ing, Respekt und Insze­nierung.

Foto: zVg.
ensuite, Jan­u­ar 2009

 

Artikel online veröffentlicht: 27. Juli 2018