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Source Code

Von Son­ja Wenger — Wie aus einem Sekun­den­schlaf schreckt Cap­tain Colter Stevens (Jake Gyl­len­haal) in einem Pendlerzug nach Chica­go auf. Ger­ade noch befind­et sich der Kampf­pi­lot bei einem Ein­satz in Afghanistan, und plöt­zlich erzählt die wild­fremde junge Frau ihm gegenüber in ver­traulichem Ton von ihrer neuesten Bekan­ntschaft. Sein Ausweis lautet auf einen anderen Namen, aus dem Spiegel­bild im Zugs-WC blickt ihm ein fremdes Gesicht ent­ge­gen, und auch son­st ist alles wirr. Doch bevor Stevens irgen­det­was erk­lären kann, explodiert eine Bombe und Zapp.

Wieder erwacht Stevens, doch dies­mal in ein­er Art Raumkapsel. Via Bild­schirm ermah­nt ihn eine Frau in Uni­form, sich zusam­men­zureis­sen, sich zu beeilen, und sich zu erin­nern, wer die Bombe im Zug gezün­det hat. Er sei Teil eines mil­itärischen Wis­senschaft­spro­jek­ts namens «Source Code», das man aber jet­zt nicht erk­lären könne. Man habe näm­lich nicht viel Zeit, um einen zweit­en Anschlag des­sel­ben Täters in Chica­go zu ver­hin­dern, der Mil­lio­nen Men­schen das Leben kosten kön­nte, und deshalb schicke man ihn jet­zt gle­ich nochmals zurück. Stevens habe acht Minuten, bevor der Zug erneut explodiere. Zapp.

Kein Vorge­plänkel, kein Wis­chi­waschi, kein Bal­last: Der Sci­ence-Fic­tion-Thriller «Source Code» wirft das Pub­likum vom ersten Moment an mit­ten ins Geschehen. Stets auf dem­sel­ben Wis­sens­stand wie Stevens, der immer wieder von neuem ver­suchen muss, das Geschehen im Zug mit­tels Indizien­suche zu rekon­stru­ieren, ent­fal­tet sich vor dem Pub­likum Schritt für Schritt eine intel­li­gente und pack­ende Geschichte um einen tragis­chen Helden.

Der britis­che Regis­seur Dun­can Jones, der erst ver­gan­ge­nes Jahr mit dem bril­lanten Sci­ence-Fic­tion-Dra­ma «Moon» im Kino war, wird sich dank seines offen­sichtlichen Tal­ents wohl bald von dem noch oblig­at­en Zusatz «der Sohn von David Bowie» lösen kön­nen. Mit «Source Code», seinem zweit­en Langspielfilm, hat er kurzweilige Unter­hal­tung vom Besten geschaf­fen. Der Film hält nicht nur sein hohes Anfang­stem­po mit Leichtigkeit durch, son­dern respek­tiert sein Pub­likum auf angenehme Weise, indem er genau­so viel fordert, wie er gibt. Ohne Ironie darf man «Source Code» als schlauen Auf­guss von «Ground­hog Day» («Und täglich grüsst das Murmelti­er», 1993) für den mündi­gen Teil der Post‑9/11-Gesellschaft beze­ich­nen.

Ver­dankt wer­den muss zudem, dass die physikalis­chen The­o­rien der Geschichte, sei es ein «Raum-Zeit-Kon­tin­u­um», par­al­lele Uni­versen, genetis­che Kom­pat­i­bil­ität oder anderes Tech­nikge­brabbel auf einem erträglichen Min­i­mum gehal­ten wer­den. Sie dienen lediglich zur Ruhig­stel­lung der Logik­fa­natik­er, und spie­len keine Rolle, was die Qual­ität der Geschichte ange­ht. Denn wirk­lich inter­es­sant bei «Source Code» sind vor allem die mehrmals über­raschen­den Wen­dun­gen, das Zusam­menset­zen des Puz­zles, und Stevens verzweifelte Suche nach Wahrheit, Ethik und Lebenssinn.

Doch nicht nur inhaltlich überzeugt «Source Code» auf jed­er Ebene. Auch das feine Zusam­men­spiel des Schaus­piel­erensem­bles stellt eine wohltuende Abwech­slung zum üblichen «Hauruck-ich-rette-die-Welt-mit-markigen-Sprüchen»-Ansatz in diesem Genre. Gyl­len­haal schul­tert als zen­trale Fig­ur eine enorme Ver­ant­wor­tung und lässt den­noch viel Raum für die wun­der­baren Charak­tere von Michelle Mon­aghan als Christi­na, die Frau im Zug, Vera Farmi­ga als Air-Force-Offizierin und Stevens Verbindung zur realen Welt, sowie Jef­frey Wright als skru­pel­losem Pro­jek­tleit­er. Eine ein­nehmende und her­aus­fordernde Kom­bi­na­tion, die jedes ihrer Ver­sprechen hält.

«Source Code». USA 2010. Regie: Dun­can Jones. Länge: 93 Minuten

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2011