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Spiegel einer bewegten Geschichte

Von Lucia Vasel­la — Mit 220 Fil­men aus über 40 Län­dern, über 100’000 BesucherIn­nen und rund 2’500 akkred­i­tierten Gästen ist das Sara­je­vo Film Fes­ti­val das grösste Film­fes­ti­val der Region. Heuer wurde es in den Juli vorver­legt, wegen des Ramadan. Für mich markierte es das Ende meines hal­b­jähri­gen Recherche-Aufen­thalts in Sara­je­vo. So tauchte ich zwis­chen dem 22. und 30. Juli in die aktuelle südos­teu­ropäis­che Filmwelt ein, mit beson­derem Auge­merk auf Filme aus dem ehe­ma­li­gen Jugoslaw­ien, und lernte Sara­je­vo nochmals von ein­er ganz anderen Seite ken­nen.

Eine Frau wartet anges­pan­nt hin­ter ein­er Haus­mauer an ein­er Kreuzung, ihr Blick richtet sich konzen­tri­ert in eine Rich­tung, sie atmet tief. Es ist still, die Kreuzung ist leer. Plöt­zlich ren­nt sie los, sprint­et so schnell sie kann quer über die Kreuzung und ver­langsamt ihre Schritte erst hin­ter der näch­sten Deck­ung, es ist die Schutz­mauer der brand­neuen amerikanis­chen Botschaft in Sara­je­vo. Ger­ade hat die Frau die Zma­ja od Bosne über­quert, seit dem Bosnienkrieg 1992–1995 bess­er bekan­nt als Sniper Alley.

Es sind aber keine Bilder aus dem Krieg, die ich sehe, keine aus­ge­bran­nten Autos, die am Strassen­rand vor sich hin­rosten, keine zer­bombten Gebäude, keine blu­ten­den Men­schen, die am Boden liegen. Und ich höre keine Schüsse von ser­bis­chen Trup­pen, die von den umliegen­den Hügeln aus die Stadt­bevölkerung ter­ror­isieren. Der exper­i­mentelle Film «1395 dana bez crvene» (1395 Days With­out Red) von Šejla Kamer­ic und Anri Sala spielt im Sara­je­vo von heute.

Vielle­icht ist das der Grund, warum mich die Szenen mit­nehmen, obwohl sie lange nicht so schock­ierend sind wie die realen Bilder aus dem Krieg. Let­ztere kenne ich gut, sie zeigen scho­nungs­los die Bru­tal­ität des Krieges, aber sie sind ver­gan­gen und weit weg. Nein, diese Bilder sind nah. Sie zeigen Sara­je­vo, wie ich es kenne, und ich stelle mir vor, wie es hier und jet­zt passieren kön­nte. So muss es damals für die Men­schen gewe­sen sein, sie gin­gen ihren alltäglichen Geschäften nach, genau wie ich jet­zt, und plöt­zlich war er da, der Krieg, und sie blieben fast vier Jahre, oder 1395 Tage lang von der Umwelt abgeschnit­ten, umzin­gelt von Heck­en­schützen und Granatwer­fern. Und 1395 Tage ohne Rot, denn auf Rot zielt es sich ein­fach­er. Oder 1395 ohne rote Ampeln, die war­nen, wenn es zu gefährlich ist, die Strasse zu über­queren.

Kamer­ic und Sala ist ein ein­dringlich­er Film gelun­gen, allerd­ings nur für Men­schen mit einem Auge fürs filmis­che Detail. Denn die Szenen ähneln sich, es gibt wenig Hand­lung und keine Dialoge. Und so scheinen auch mir die 60 Minuten etwas zu gut gemeint – 20 hät­ten es auch getan.

Kriegswun­den und mehr Der Krieg und seine Fol­gen waren am 17. Sara­je­vo Film­fes­ti­val vor allem in bosnis­chen Doku­men­tarfil­men nach wie vor ein dom­i­nantes The­ma: In «Koliko Visoko Je Nebo» (Beneath the Sky) von Ismet Lisi­ca zeigt ein ein­heimis­ch­er Kam­era­mann seine raren Auf­nah­men des im Krieg belagerten Städtchen Goražde, in «Heroj našeg Doba» (A Hero for our Time) ent­larvt der Jour­nal­ist Šeki Radon­cic einen als Helden gefeierten mon­tene­grinis­chen Ex-Polizis­ten, der im Krieg bosnis­chen Gefan­genen das Leben gerettet haben will, und in «Moja izgublje­na gen­eraci­ja» (My Lost Gen­er­a­tion) kehrt der im Krieg nach Däne­mark geflüchtete 31-jährige Vladimir Tom­ic in ein ihm fremd gewor­denes Bosnien-Herze­gow­ina zurück. Doch sind dies nicht die einzi­gen The­men: als bester Doku­men­tarfilm aus­geze­ich­net hat die Fes­ti­val-Jury «Mobi­tel» (A Cell Phone Movie) vom lokal bekan­nten bosnis­chen Filmemach­er Nedžad Begov­ic. Den Film drehte er auss­chliesslich mit seinem Mobil­tele­fon, und wie bere­its bei seinem Film «Sasvim Lic­no» (Com­plete­ly per­son­al) stellt er sich selb­st in den Mit­telpunkt. Bei Begov­ic wird Angi­na diag­nos­tiziert und sein Arzt hält ihn zu reich­lich Bewe­gung an. So zieht Begov­ic herum und zeich­net dabei alberne Graf­fi­tis, stolpernde Men­schen und seine Tele­fonge­spräche auf. Der Film lädt zum Schmun­zeln ein ohne dass man einen tief­er­en Sinn darin find­et.

Das Pub­likum hinge­gen kürte den englis­chen Doku­men­tarfilm «The Love of Books – A Sara­je­vo Sto­ry» von Sam Hobkin­son zum Lieblings­film. Einen sehenswerten Film über die helden­haften Tat­en ein­er Gruppe von Buch­lieb­habern, die im belagerten Sara­je­vo ihr Leben riskierten um die wertvollen Schätze der Gazi Hus­rev-beg Bib­lio­thek vor der Zer­störung zu schützen. Durch die Ver­flech­tung von Orig­i­nal­film­ma­te­r­i­al mit drama­tisch nachge­spiel­ten Szenen, gelingt es Hobkin­son, eine ergreifende Geschichte über die Wichtigkeit von Büch­ern für Geschichte und Kul­tur ein­er Gesellschaft zu erzählen.

Nos­tal­gis­che Töne… Pub­likums­mag­net unter den Doku-Fil­men in Sara­je­vo war aber auch «Orkestar», ein Film über das facetten­re­iche Dasein der Sara­je­vo Band Plavi Orkestar (Das blaue Orch­ester). Sänger Saša Lošic – genan­nt Loša – und die Band tre­f­fen zahlre­iche Promi­nente aus ihrer Blütezeit und erin­nern sich zurück an die wilden 80er in Jugoslaw­ien. Lei­der ver­liert sich das Regis­seuren-Duo Pjer Žal­i­ca und Loša etwas im Mate­r­i­al: für den Film inter­viewten sie an die 80 Musik­er, Poli­tik­er, Schaus­piel­er, Fam­i­lien­mit­glieder und Sportler. Und sie alle scheinen zu Wort zu kom­men: es rei­hen sich State­ment an State­ment, prak­tisch ohne Ver­schnauf­pause, so dass es für auf Unter­ti­tel Angewiesene schwierig ist, den Überblick zu behal­ten. Trotz­dem ist «Orkestar» ein sehenswert­er Film, der mit viel Witz, aber auch viel Melan­cholie eine Zeit aufleben lässt, von der sich wie es scheint wed­er die Pro­tag­o­nis­ten im Film noch die Zuschauerin­nen und Zuschauer richtig ver­ab­schieden kon­nten.

…und Bilder Eben­falls in Nos­tal­gie schwel­gt der ser­bis­che Film «Cin­e­ma Komu­nis­to» von Mila Tura­jlic, meines Eracht­ens ein­er der besten Filme am diesjähri­gen Fes­ti­val. Tura­jlic stellt eine Chronik der einst stolzen Fil­min­dus­trie Jugoslaw­iens zusam­men und liefert faszinierende Fak­ten. Präsi­dent Tito liebte den Film, fast jeden Abend schaute er zusam­men mit sein­er Frau Jovan­ka Spielfilme, zwis­chen 260 und 365 im Jahr, wie sein per­sön­lich­er Vor­führer Alek­san­dar Leka Kon­stan­ti­novic im Film erzählt. Er hat genau Buch geführt. Ins­ge­samt 8’801 Stück hat er ihm in sein­er 32-jähri­gen Kar­riere vorge­führt. Tito erkan­nte im Film aber auch ein her­vor­ra­gen­des Pro­pa­gan­damit­tel, und liess 1945 in der Umge­bung von Bel­grad die mächti­gen Avala Film Stu­dios erbauen. Diese waren eine regel­rechte Brut­stätte für Par­ti­sa­nen­filme, in welchen jugoslaw­is­che Wider­stand­skämpfer zu Zeit­en des 2. Weltkriegs erfol­gre­ich ihren neuen Staat vertei­digten. Für die Filme wur­den teil­weise echte Sol­dat­en einge­set­zt, damit diese die Geschicht­en ihrer Vor­fahren ken­nen lern­ten. Für den Film «Bit­ka na Neretvi» (Bat­tle of Neret­va, 1969) wurde gar eine echte Brücke in die Luft gesprengt, deren Über­reste heute noch eine Touris­te­nat­trak­tion darstellen. Doch diese Geschicht­en alleine machen den Film nicht aus, um sie zu erzählen, lässt Tura­jlic nicht nur von Zeitzeu­gen sprechen, son­dern set­zt akribisch ein­drück­lich­es Archiv­ma­te­r­i­al zusam­men.

Sozial­dra­men statt Par­ti­sa­nen­filme Doch der jugoslaw­is­che Film ist Geschichte, die Avala Stu­dios zer­fall­en und die Spielfilme aus der Region haben sich gewan­delt. Nicht Filme über helden­hafte Wider­stand­skämpfer buhlten am 17. Sara­je­vo Film Fes­ti­val um das Herz von Sara­je­vo, wie der Fes­ti­val­preis genan­nt wird, son­dern solche über ori­en­tierungslose Jugendliche. Bei bei­den Wet­tbe­werb­s­beiträ­gen aus dem ehe­ma­li­gen Jugoslaw­ien han­delt es sich um Sozial­dra­mas über junge Erwach­sene. Der Film «Fleke» (Spots) des Kroat­en Aldo Tar­dozzi erzählt von zwei 17-jähri­gen Mäd­chen, die sich in Zagreb in ein­er Bar begeg­nen und gemein­sam eine Nacht voll Dieb­stahl, Gewalt und Dro­gen durch­leben. In «Izlet» (The Trip, Nejc Gazvo­da) unternehmen drei ehe­ma­lige slowenis­che Schul­fre­unde einen Road-Trip, auf welchem ihre Fre­und­schaft auf die Probe gestellt wird, weil nach und nach ihre dunkel­sten Geheimnisse ans Licht kom­men.

Mit diesen The­men ste­hen die bei­den Filme aber nicht allein da. Von den restlichen sechs Wet­tbe­werb­s­beiträ­gen der Kat­e­gorie Spielfilm han­deln weit­ere fünf von Kindern oder jun­gen Erwach­sene, meist in Form von Sozial­dra­men. Sie kom­men aus Griechen­land, Rumänien, Bul­gar­ien, Öster­re­ich und aus der Türkei. Bemerkenswert ist auch, dass es sich bei sechs der acht Filme um Erstlingswerke han­delt. So gab der öster­re­ichis­che Schaus­piel­er Karl Markovics («Die Fälsch­er», «Komm, süss­er Tod») sein Regiede­büt «Atmen» zum Besten und räumte damit gle­ich den Preis ab. Der Film erzählt die Geschichte eines 19-jähri­gen Krim­inellen, der nach sein­er Haft­strafe resozialis­ert wer­den soll.

Ins­ge­samt sor­gen die Filme über den Krieg und die Sozial­dra­men eher für schw­er­mütige Kino­er­leb­nisse am 17. Sara­je­vo Film Fes­ti­val. Da passte der Regen, der in Strö­men fiel, nicht aber die unglaublich laute Dis­co-Musik, die allabendlich durch die Fes­ti­val-Par­tymeile hallte. Das Pro­gramm neben der Lein­wand unter­schei­det sich in Sara­je­vo nicht von anderen Film­fes­ti­vals: viel Promi­nenz auf einem roten Tep­pich, Gala-Ver­anstal­tun­gen und viel Trubel um nichts. Immer­hin organ­isierte die Fes­ti­valleitung für den ein­heimis­chen Film­nach­wuchs diverse Diskus­sions­foren und Ver­anstal­tun­gen zum Aus­tauschen und Kon­tak­teknüpfen. Und sie lud sog­ar einige Gäste ein, die etwas zu erzählen hat­ten. Zum Beispiel Wim Wen­ders, er reiste mit seinem 3D-Film Pina über die deutsche Chore­o­graphin Pina Bausch an und ermutigte junge FilmemacherIn­nen, die 3D-Tech­nik für sich zu ent­deck­en, damit sie nicht länger nur von Hol­ly­wood aus­genutzt würde.

Trotz Wim Wen­ders sagt mir das ganze Drumherum wenig, ich bin gekom­men um mir Filme anzuschauen, die ich ver­mut­lich son­st wohl nur mit Mühe zu sehen bekäme. Und es hat sich gelohnt, obwohl die Filme mir lei­der auch meinen Ein­druck über Bosnien-Herze­gow­ina bestätigten, den ich von meinem hal­b­jähri­gen Aufen­thalt her kan­nte: den meines Eracht­ens grössten Her­aus­forderun­gen des Lan­des, Arbeit­slosigkeit, Kor­rup­tion auf allen Ebe­nen und die grauen­hafte Ver­schmutzung der Umwelt wird zuwenig Beach­tung geschenkt. Es scheint so, als seien diese Prob­leme solange unlös­bar, wie die Wun­den aus den tragis­chen Ereignis­sen der Geschichte nicht ver­heilt sind.

Bild: Schaus­pielerin Mari­bel Verdú im Film 1395 — Days With­out Red — Foto by Milomir Kovace­vic Strašni
ensuite, Sep­tem­ber 2011

Artikel online veröffentlicht: 19. Februar 2019