Von Frank E.P. Dievernich / Peter Kels — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (XXI): Wie, Sie haben keinen Standpunkt? Wir diagnostizieren: Ihnen fehlt das Rückgrat! Wie wollen Sie sich denn überhaupt ohne festen Standpunkt in einer Gesellschaft zurechtfinden, die uns fortlaufend mit Informationen überflutet und permanent Entscheidungen abverlangt? Gerade heute, wo die Dinge nicht mehr selbstverständlich und selbsterklärend sind und man an jeder Ecke aufgefordert ist, Stellung zu beziehen, braucht es doch das Rückgrat! Und schliesslich muss man doch den süssen, aber – seien wir doch einmal ehrlich – letztlich unheilvollen Verlockungen widerstehen und Haltung bewahren! In jedem Fall dürfte im Fall des fehlenden Rückgrates Charakterlosigkeit oder ein Defizit in der Psyche vorliegen. Ein klarer Fall also für PsychologInnen, TherapeutInnen und WerteenthusiastInnen. Wir sind entsetzt.
Das ganze Dilemma des Rückgratlosen wird besonders im Unternehmen deutlich. Hört man genau hin, dann sehnen sich Mitarbeitende wie Führungskräfte in Zeiten der Unverbindlichkeit und Selbstoptimierung nach Unternehmenslenkern mit einem erkennbaren Standpunkt. Nach Führungspersönlichkeiten, die durch die Wellen der Veränderung zielsicher und unbeirrt navigieren können, weil sie über einen störungsunempfindlichen inneren Kompass verfügen. Dass im «echten Leben» der eine oder andere Kompass dann doch häufig mehr auf sich selbst als auf das Unternehmenswohl zu zeigen scheint, beweist doch nur, wie nötig der «Fels in der Brandung» ist. Oder? Oder etwa nicht?
Auch Politikern wird ja seitens der Medien mal genüsslich, mal verbissen vorgehalten, sie hätten keinen Standpunkt oder wären diesem mal wieder nicht treu geblieben. Denken wir etwa an die amtierende deutsche Kanzlerin, die häufig als Paradebeispiel einer Führungskraft ohne Standpunkt angeführt wird, aber die Klaviatur der Taktik und des stoisch anmutenden Nicht-Entscheidens unnachahmlich virtuos beherrscht. Ist es nicht bemerkenswert, dass gerade die Medien beharrlich daran arbeiten, Politiker auf feste Standpunkte festlegen zu wollen und ihnen dann entlarvend den Spiegel vorhalten, während sie zugleich selbst von einem auf den anderen Tag ihre Standpunkte verlassen oder diese schlicht vergessen? Medien referieren auf feste Standpunkte, fordern sie ein und kalkulieren mit der Standpunktsehnsucht der Menschen. Unterhaltsam wird es besonders dann, wenn sie moralisches Pingpong spielen, in dem sie auf der einen Seite die Gabe des Sich-Nicht-Festlegen-Lassen-Wollens loben (etwa in der Einschätzung, dass Merkel sich durch Nicht-Festlegung aus der Krise Europas hinausmäandere) und dieses im gleichen Atemzug tadeln. Nun, manch radikal zugespitzte Stimme aus Politik oder medialer Öffentlichkeit sucht den Ausweg in diesem Durcheinander der Meinungs- und Diskussionsvielfalt in Standpunkten, die keine Ambivalenz mehr zulassen und im Brustton der (echten oder gespielten) Empörung vorgetragen werden. So werden etwa Ängste vor nationalstaatlichen Souveränität- und Identitätsverlust mal psychotechnisch versiert, mal eher stumpf heraufbeschworen und daraufhin (als Heilungsversprechen) durch feste Haltungen und Standpunkte wieder beruhigt. Was also tun in dem Gewirr der Stimmen von Moralisten, Zynikern und kühl kalkulierenden Opportunisten ohne Rückgrat?
Der Moralist fordert in solch überhitzt-undurchsichtigen Momenten eine klare Haltung, liefert uns aber letztlich nichts anderes als eine Bankrotterklärung gegenüber der Komplexität des modernen Seins, einen Rückfall in ein Informationszeitalter der Steinzeit. Ein Hoch auf diejenigen, die als Lurche auf die Welt gekommen sind oder sich in harter Arbeit das Rückgrat abtrainiert haben, bemerkt hämisch der realitätsfeste Zyniker, der den funktionalen Opportunismus des heutigen Zeitgeistes geisselt.
Nun, wie also kann man in dieser festgefahrenen wie verwirrenden Situation weiterkommen? Wir plädieren schlicht dafür, nicht mehr auf den unverrückbaren Standpunkt zu setzen, sondern diesen bescheidender einfach als Ausgangspunkt (im Englischen «point of departure») für sich an- aber kaum abschliessende Prozesse der sozialen Verständigung und Meinungsbildung zu begreifen. Klarheit nur zu Beginn, damit man weiss, von wo aus man startet. Der Ausgangspunkt ist demnach das geistig-moralische Rüstzeug, um in die organisationale und gesellschaftliche Arena der kommunikativen Kämpfe, Überzeugungs- und Abschleifmanöver einsteigen zu können. Intelligent ist, wer das Wellenreiten der Meinungen und Diskurse nüchtern beobachtet und sich hier und dort in das Gefecht der Positionen und Argumente einmischt: indem er seinen Ausgangspunkt zur Verfügung stellt – denn nichts anderes bedeutet Kommunikation. Gute Argumente aufzunehmen, die einen weiter blicken lassen als bloss den eigenen Standpunkt zu behaupten, ist das Ziel, will man auf der kommunikativen Welle bleiben. Das Gebot des klug Handelnden in einer Gesellschaft, deren Komplexität nicht mehr zurückzudrehen ist, wäre demnach, sich Handlungsalternativen zu erhalten. Anders gesagt: den eigenen Standpunkt als Einstieg in das soziale Geschehen anzubieten mit dem Ziel, zu schauen, was sich daran als Anschlussoperationen ergibt und dazuzulernen. Freude herrscht dort, wo der Ausgangspunkt gemeinsam dekonstruiert wird und er sich in einen Neuen transformiert. Der solitäre Standpunkt selbst ist in der modernen Gesellschaft und ihren Organisationen bloss nur mehr eine kommunikative Fussnote jener, die unter der Rubrik: «Borniertheit, die» zitiert werden und das noch für ehrenwert halten.
Foto: zVg.
ensuite, März 2013