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Steps# 12

Von Kristi­na Sol­dati — Das wohl attrak­tivste Tanzfes­ti­val der Schweiz find­et alle zwei
Jahre statt. ensuite berichtet über fünf Ver­anstal­tun­gen: Die Schweiz­er kön­nen stolz sein auf ihr Migros-Kul­tur­prozent, denn es ist wohl weltweit einzi­gar­tig, was der Unternehmer Got­tlieb Dut­tweil­er im Jahr 1957 ins Leben rief. Ein­ma­lig deshalb, weil die soziale und kul­turelle Wohltätigkeit in den Unternehmensstatuten ste­ht. Automa­tisch, ohne argu­men­tieren zu müssen, geht Jahr für Jahr ein Prozent des Umsatzes des Grossun­ternehmens an die Gemein­schaft, unser Gemein­wohl: unsere Kul­tur, Bil­dung, Freizeit und wirtschaft­poli­tis­che Fra­gen. Dut­tweil­er war nicht Pio­nier heutiger Pres­tige-Events oder PR-Pro­mo­tion. Dut­tweil­er war schlicht gottes­fürchtig. Die Ver­ant­wor­tung für den Schwächeren fol­gte daraus. Weil das Prozent umsatz- und nicht gewinnab­hängig ist, kom­men wir auch in Krisen­zeit­en zu einem ungeschmälert attrak­tiv­en Pro­gramm-ange­bot. Das Schweiz­er Tanz-Fes­ti­val Steps gibt es zwei­jährlich seit 1988. Im Geiste des Migros-Kul­tur­prozents ver­sucht es zum Wohle der Gemein­schaft, die gesamte Schweiz zu erre­ichen. Es bespielte dieses Jahr 29 Städte drei Wochen lang mit zwölf Com­panien. Mit Erfolg, denn gut die Hälfte der Ver­anstal­tun­gen war ausverkauft.

1. Aus den Flughafen­hallen zum Sym­po­sium Ein ganz wertvoller Beitrag des Fes­ti­vals ist jew­eils das Sym­po­sium. Sein Sinn? Die erlese­nen, meist aus­ländis­chen Gäste des Fes­ti­vals, die durch das gesamte Land gelotst wer­den, soll­ten sich nicht nur in den Flughafen­vorhallen tre­f­fen, meint Hedy Gar­ber, Lei­t­erin der Direk­tion Kul­tur und Soziales des Migros Genossen­schafts­bun­des. Nein, sie soll­ten ein­be­zo­gen wer­den in inhaltliche Debat­ten. Zwei Drit­tel der Com­panieleit­er von Steps #12 war auch zur Stelle, dieses Jahr in den Vid­marhallen von Bern. Migros wün­scht, aktiv Akzente in der Schweiz­er Kul­tur­land­schaft zu set­zen. Dass Migros fördert und organ­siert, das wis­sen wir, aber mit solchen the­ma­tisch gefassten Fes­ti­vals und Sym­posien «investiert sie in Inhalte».

«Geld!» Und was ist der Inhalt dieses Jahr? Zum ersten Mal sollte der Tanz­mach­er (Heinz Spo­erlis Begriff) im Mit­telpunkt eines Sym­po­siums ste­hen, sein kün­st­lerisch­er, aber auch exis­ten­tieller Werde­gang. «Kreativ­ität und Kar­riere in der Chore­ografie» war der Titel. Neben den doch weni­gen Schweiz­er Chore­ografen und natür­lich Tänz­ern, waren Ver­anstal­ter, Förder­er und Medi­en­schaf­fende geladen. Die Presse glänzte durch Abwe­sen­heit. Das visuelle Medi­um art-tv wird aber auf seine Kosten gekom­men sein, als er Hans van Manen ins Visi­er nahm. Der Star der Gelade­nen war augen­schein­lich in Höch­st­form. Humor­voll schilderte er, wie er zum Beruf kam. Wie er als Masken­bild­ner in die Tanzproben lugte — und bald für jemand ein­sprin­gen sollte… Was wün­sche Hans van Manen für den Tanz von heute? Der Rat eines der erfol­gre­ich­sten Chore­ografen adressiert an den heuti­gen Tanz kön­nte für die Anwe­senden und jun­gen Chore­ografen unschätzbar sein. Doch auf die Frage ertönte es schlicht: «Geld!»

Dieser beschwörende Ruf wurde nach Manen-Manier aber sogle­ich humor­voll umge­wan­delt: «Wenn man den Tanz ger­ahmt an die Wand hän­gen kön­nte, sässen lauter Mil­lionäre hier…»

Gelehrsam und mit Goethe-Zitat­en gespickt sprachen «Kreativ­itäts­forsch­er» und Kun­sthochschul­rek­toren von Kreativ­ität und seinen Durst­streck­en. Ob den Betrof­fe­nen das von der Kanzel Gesagte hil­ft oder sie nur ver­stimmt, bleibe offen. Die Def­i­n­i­tion von Kreativ­ität als Neukom­bi­na­tion von Infor­ma­tion im Wech­sel­spiel von Kon­ver­genz und Diver­genz mag zwar biol­o­gis­che, psy­chol­o­gis­che und psy­chi­a­trische Erfahrun­gen auf einen gemein­samen Nen­ner zu brin­gen. Sie trifft auf Zellen nicht min­der zu wie auf Chore­ografen -, und hil­ft in der Not keinen Schritt weit­er. So wenig wie die müs­si­gen Worte zur Sorge um den Nachruhm. Dies ist die einzige Sorge, die die ephemere Kun­st nicht plagt.

Reper­toirpflege als Chance Eine Red­ner­in vom Fach, Karin Her­mes, kon­sta­tierte — zwar in anderen Worten — wie der Tanz von heute rechts und links klaut. Für die Post­mod­erne der mobil­sten aller Kün­ste, des Tanzes, ist das dur­chaus legit­im, doch bess­er wäre es, wenn man auch noch wüsste, was man klaut. So plädierte die Tanzrekon­struk­teurin (sie holt nota­tion­ge­nau Tänze aus der Vergessen­heit) und Chore­ografin für die Ken­nt­nis aller Stil­früchte, die auf dem Markt feil­ge­boten wer­den — und für deren Faire­trade. Damit aber die Früchte, noch bevor sie genetisch verän­dert (oder geklaut) wer­den, gekostet und ihren Namen in die Welt tra­gen kön­nen, bedür­fen sie der Märk­te. Dafür brauchen, wenig­stens die Früchte der Stil­prä­gend­sten, einen wiederkehren­den Stand, an dem sie immer wieder als «Reper­toir» her­vorge­holt und aufgetis­cht wer­den kön­nen. Wir Kon­sumenten kön­nten so auf den Geschmack kom­men und sie unter­schei­den ler­nen, bevor sie weit­er zubere­it­et wer­den.

Inten­sive Tis­chge­spräche Wertvoll ist die inte­gri­erende Idee der Tis­chge­spräche, eine Rar­ität in der Tanzszene. Da Förder­er und Ver­anstal­ter so zahlre­ich zur Stelle waren wie die Kün­stler selb­st, ent­stand ein sehr inten­siv­er, zutief­st pro­fes­sioneller und erfahrungs­ge­laden­er Aus­tausch. Träumte jemand, z.B. gegenüber Sidi Lar­bi Cherkaoui sitzen zu dür­fen? Dem Bel­gi­er Fra­gen zu seinen kün­st­lerischen (Um)Wegen zu stellen? Das Sym­po­sium bot an diversen mod­erierten Tis­chrun­den mit den Com­panieleit­ern des Fes­ti­vals dazu Gele­gen­heit.

Anerken­nung, so ward an diesem Tag wis­senschaftlich dargelegt, ist ein fes­ter Pfeil­er der Kreativ­ität. Näm­lich für ihre Moti­va­tion. Doch woher nehmen? Die bel­gis­che Tanzförderung ist weltweit vor­bildlich. Der Schweiz­er Chore­ograf der freien Szene bet­telt (abend­fül­lende!) pro­jek­tweise um Geld, wird kaum angekündigt oder besprochen (die Schweiz­er Presse ist im Abbau und fusion­iert) und Fach­blät­ter gibt es keine mehr (die let­zten drei gin­gen die ver­gan­genen zehn Jahre ein). Was zunehmend den Ton angibt, ist die PR der Ver­anstal­ter und ihr Geschmack…

Wie gut tut da so ein Sym­po­sium, das wieder alle um den Tisch sam­melt!

2. «Beau­ti­ful Me», ein Stück mit afrikanis­ch­er Leuchtkraft Steps stellt dieses Jahr seine Tanzstücke the­ma­tisch unter den Stern stil­prä­gen­der Chore­ografen­schick­sale. Und da leuchtet Gre­go­ry Maqo­mas Stück bunt und hell. Es gren­zt an ein feier­lich­es Wun­der, dem wir bei­wohnen dür­fen, wenn Maqo­ma sich am eige­nen Schopf aus dem Sumpf des Town­ships Sowe­to gezo­gen ein so pos­i­tives und sug­ges­tives Werk schafft wie «Beau­ti­ful Me». Wie er in der Kind­heit seinen Namen buch­sta­bieren lernt (Gre­go­ry ist ein Zun­gen­brech­er für die Xhosa, dem Volk, dem Nel­son Man­dela und Desmond Tutu ange­hören), hun­dert­mal, lernt er auch die Liste der Namen, die in seinem Land (trau­rige) Geschichte schrieben. Doch er sucht nicht Rache noch Spuren sein­er Ahnen, son­dern ver­spiel­ten Dia­log. Die Spuren quellen ihm ohne­hin aus den Gliedern: Bevor er sich ver­sieht und eine aus­holende Spi­rale uns auf­fächert, ward schon die Erde ange­stampft und ihrem Geist die Kraft entliehen. Die Spi­rale selb­st ist ein Geschenk des Inders Akram Khan, einem Schick­salsgenossen und gefeierten Chore­ografen in Lon­don. Auch er lernte die Kun­st der Ahnen, den von den britis­chen Kolo­nial­her­ren ver­pön­ten klas­sis­chen Tanz Kathak. Auch er fand zu ein­er frucht­baren Auseinan­der­set­zung im Tanz von heute. Gre­go­ry sog den Kathak seines Fre­un­des in sich auf wie beg­nadete Tänz­er es tun: wie ein Schwamm. Wenn er mit einem weit­en Rumpfkreisen die anver­traute Spi­rale in die Luft zeich­net, säu­men feingliedrige Hin­du­tanz-Fin­ger die Shi­va-fürchtige Pose. Doch dann fol­gt die Trans­for­ma­tion: Gre­ogo­rys Hand­flächen begin­nen zu schwirren und zu flat­tern, ein weisender Zeigefin­ger ver­lässt das indis­che Sym­bol­ge­bilde erzäh­len­der Geste, um auf die eigene Stirn zu pochen (in Kathak ist Eigen­berührung tabu), und auf die Brust, sie als Büss­er nach dem Gewis­sen abzuk­lopfen. Die Beine beben, doch sie fol­gen, mit­geris­sen, dem weisenden Fin­ger, der ihnen den fer­nen Hor­i­zont deutet. In weni­gen Minuten ist eine Geschichte erzählt, die Kon­ti­nente und ihre Iden­titäten verknüpft. Die Musik tut es ohn­hin, denn das par­ti­tur­lose Zusam­men­spiel der vier Musik­er auf der Bühne verbindet die indis­che Sitar, Vio­line, Cel­lo und Schla­gin­stru­mente.

Wen inter­essiert, wo die zwei Minuten Mate­r­i­al des Co-Chore­ografen Akram Khan steck­en? Wen inter­essieren die vir­tu­osen Ver­wand­lungskün­ste, wenn Gre­go­ry von Vin­cent Mantsoe (einem weit­eren Mit-Chore­ografen) anver­traute Tier­ah­mungen voll­bringt, stelzt wie ein Flamin­go oder her­an­pirscht wie ein Tiger? Es ist der Dia­log, der inter­essiert, den er webt und pflegt, auch mit dem Zuschauer. Wir helfen ihm am Ende, seinen Namen zu buch­sta­bieren. Wieder­holt. «Neu­nund­ne­un­zig», heisst’s, und ein stür­mis­ch­er Applaus bricht los.

3. Limón-Dance-Com­pa­ny José Limóns Werke leben fort. Seine fün­fzigjährige Com­panie ist vitaler denn je. Sie brachte viel Schwung und Atem in das Fes­ti­val Steps #12. Auf dem Pro­gramm stand neben Limóns Klas­sik­er «A Moores Pavane», einem dicht­en chore­ografis­chen Meis­ter­w­erk von 25 Minuten, sein bib­lis­ches Stück «There is a Time». Es ist ein pro­gram­ma­tis­ch­er Tanz zu Salo­mos bekan­nter Textstelle «Alles hat seine Zeit». Doch neben dem nachvol­lziehbaren aus­drucksstarken Inhalt gilt für Schritt wie Schrift: die Form ist so sprechend wie des Predi­gers Wort. In der Form liegt Pro­gramm. Schon Salo­mo wand die Weisheit in einen Reigen. Wie die grössten Kon­traste im Leben dicht an dicht ihren Platz haben, so rei­hen sie sich bei Salo­mo Vers an Vers. Weinen und Lachen reichen sich die Hand. Wen wundert’s, wenn die Kre­is­form José Limóns Stück «There is a Time» durch­webt? Sie ist am Anfang und Ende, vere­int sinnbildlich die Kon­traste und nimmt jeden einzel­nen auf. Die getanzten Leben­sphasen gliedern sich in ihr ein wie in den wiederkehren­den Zyk­lus der Natur der Men­sch. Nach vielem hin und her, auf und ab mün­det bei Salo­mo das Ende der Rei­hung, der Hass und Krieg, in den Frieden. Bei Limón wiegt sich da ein Kreis von Men­schen, einan­der zuge­wandt, und formt das entsprechende Schluss­bild.

Die Ver­wen­dung eines starken Sinnbilds allein ist noch nicht genial. Genial bei José ist, dass Kreise wie unmerk­liche Ket­tenglieder die Chore­ografie durchziehen. Es kreist der Oberkör­p­er oder ein imag­inäres Gewicht rollt im Hal­brund der Arme. Es kreisen die Köpfe, die durch die Fliehkraft ein­er Drehung auss­chwin­gen. Wenn der Dreh­punkt nicht in einem Kör­p­er liegt, son­dern in der Mitte viel­er, etwa beim Reigen, so schweis­sen die Tänz­er sich gegen die Fliehkraft zusam­men. Eine so ansteck­ende Erschei­n­ung, die beim Kreis­tanz zum Ein­rei­hen ein­lädt: fest am Nach­barn ver­ankert ist solch kraftvoller Schwung nur in Gemein­schaft zu erfahren und vor allem: wieder einz­u­fan­gen. Ein in Wogen aus­pendel­ndes Phänomen, das in der Aus-Zeit von Kreistänzen ein sel­tener Blick­fang ist.

Die Limón-Dance-Com­pa­ny pflegt aber nicht nur das Erbe. Sie belebt auch die Geschichte, die um José herum die Grossen prägte. Beispiel­sweise mit Anna Sokolovs Stück aus dem Jahr 1955, das in Bern zu sehen war. Es macht uns das poli­tisch und gesellschaft­skri­tis­che Engage­ment des mod­er­nen Tanzes wieder bewusst. Stilis­tisch eckt und schre­it es, und kün­det vom (deutschen) Aus­druck­stanz. Und schliesslich ver­mit­telt die Com­panie ihre jüng­sten Sprosse, wie in Zürich zu sehen war: eine fliessende Chore­ografie des ehe­ma­li­gen Solis­ten Clay Taglio­fer­ro.

4. Hip Hop wird Kun­st Was wün­scht man sich mehr, als dass ein Durch-und-durch-Kün­stler wie Bruno Bel­trao sich einem Sprachkodex wie dem Break Dance annimmt, noch bevor dieser gän­zlich zur Attrak­tion verkommt? Bruno Bel­trao lernte den Kodex auf den Strassen der Vorstadt von Rio de Janeiro 1980. Mit 16 barst seine Kreativ­ität und er grün­dete seine eigene Com­panie. Mit­tler­weile set­zt er den Break Dance dem chore­ografis­chen Know-how von heute aus.

Das wird am Pro­grammheft deut­lich, wo er grossen Wert auf den Ein­satz von Raum legt. Dieser mag für den Break Dance der Hin­ter­höfe eine immense Errun­gen­schaft sein, der Zuschauer nimmt ihn gelassen für ein Apri­ori. Doch Bel­trao set­zt damit Massstäbe: Nie wieder wer­den wir durchge­hen lassen, wenn Break-Dance-Fig­uren sich auf der Bühne in schäbi­gen For­ma­tio­nen (wom­öglich geometrischen..) gesellen. Wenn ehe­dem pro­voka­tive Einzelkämpfer beim Bat­teln zu gerei­ht­en Show­dancern verkom­men. Dank sei also dem Helden der Kun­st wie Bel­trao, der neue (Raum)Wege sucht.

Atem­ber­aubend ist ein Weg, den er seine neun Tänz­er flitzen lässt. Man ken­nt ihn zwar, es ist die Manege, doch auf die Rich­tung kommts an: Rück­wärts rasen die ath­letis­chen Kör­p­er ohne Geschwindigkeits­beschränkung. Über­holen gibt’s dur­chaus. Doch beson­ders beein­druck­end sind die Auswe­ich­manöver des Gegen­verkehrs. Nein, sie schauen nicht zurück. Auch nicht im Rück­spiegel. Ihr blindes Abges­timmt­sein ist die Quin­tes­senz des Abends. Hat­ten die Indi­viduen von Anbe­ginn an Kom­mu­nika­tion­sprob­leme, gegen Ende läuft’s rei­bungs­los. Waren zu Beginn die Phrasen der Einzel­nen monolo­gisch selb­st im Duett, gegen Ende tanzen neun gemein­sam. Hat­ten die Phrasen anfangs unab­se­hbare Schlusspunk­te — ein Kopf, der statt einem i‑Tüpfelchen nur abknickt, eine Schul­ter die verkrampft in die Höhe zuckt -, sind sie nach ein­er Stunde abgerun­det. Lief zu Beginn der Aus­tausch über miss­glück­te Über­sprung­hand­lun­gen, das zuck­ende Handge­lenk, das aus­büchst und am Hin­terkopf des Neben­mann zur Ruhe kommt, kreiste am Ende ein seliger Reigen. Auch wenn das vier­beinige Kreiseln ohne anzueck­en an die wort­lose Ver­ständi­gung unser­er lan­garmi­gen Vor­fahren erin­nert…

5. Trilo­gieab­schluss: Babel(words) Der gefeierte Chore­ograf Sidi Lar­bi Cherkaoui hat unlängst in Brüs­sel das Abschluss­werk sein­er Trilo­gie präsen­tiert: «Babel(words)». Das Tanzfes­ti­val STEPS holte es taufrisch in die Schweiz. Die Trilo­gie han­delt mit human­is­tis­chem Anspruch von den Höhen und Tiefen men­schlich­er sowie religiös­er Beziehung. «Babel(words)» ist ein the­atralis­ches Werk, dessen Eklek­tik wohl Pro­gramm ist.

Am Anfang war das Wort. So begin­nt die Bibel. Am Anfang war die Geste, so begin­nt dage­gen Cherkaouis «Babel». Die Geste ging dem Wort voran, heisst es da. Doch Geste und Wort, die das behaupten, sind syn­thetisch wie eine Robot­er­stimme und die abgenutze Zeichen­sprache ein­er Stew­ardess an Board. Wie aber mag die Geste ehe­dem unver­braucht gewe­sen sein?

Da ertö­nen Trom­meln (der fünf grossteils ori­en­tal­is­chen Musik­er) und die bunte Arbeit­ertruppe des Turms zu Babel hin­ter der Star­tlin­ie set­zt ihre erste Geste: Sie markiert ihr Gelände. Eine gute Elle bis zum Nach­barn, an den man stösst. Der wiederum reagiert und markiert: sein Ter­ri­to­ri­um, eine Elle. Und so fort. Kurzge­fasste Dro­hge­bärde rei­ht sich wie der Trom­melschlag, zunehmend aggres­siv. Diag­o­nal in den Lüften arretierte Fuss­sohlen gren­zen ihren Raum ab und wan­deln rhyth­misiert sich zum Kampf­s­port ohne Berührung. Die Eigen­räume über­schnei­den sich, eine Elle greift bis in die Kern­zone des andern, die Glieder drin­gen ein wie Enklaven. Schon früh lernt der Men­sch, wie man mit andern den sel­ben Raum teilt. Respek­t­fordernd. Gewaltig.

Dann kommt die Neugi­er und Ent­deck­ung des anderen. Die Ent­deck­ung auch der Manip­u­la­tion. Die syn­thetisch wirk­ende Stew­ardess-Fig­ur, eine Über­spitzung unseres Schön­heit­sideals, ist näm­lich steuer­bar. Gelenke und jed­wede Auswöl­bung sind eine Klaviatur, an der sich genüsslich zwei Asi­at­en bedi­enen. Ein Hebeln bewirkt den Knick im Ell­bo­gen, ein Druck das Drehen des Halses. Die passende neu­rowis­senschaftliche Recht­fer­ti­gung liefert uns wortre­ich ein Intellek­tueller — doch lei­der hat er uns zuvor schon erfol­gre­ich die prak­tis­chen und meta­ph­ysis­chen Vorzüge des gigan­tis­chen Wür­fel-Designs (Büh­nen­bild: Antony Gorm­ley) verkauft. Wir wer­den mis­strauisch… Jede Geste des Red­ners sitzt, der Ton­fall ist ein­studiert wie der abge­brühter Vertreter. Auf dessen Rhyth­mus echot das Ensem­ble syn­chron seine Gebärde. Im Rhyth­mus find­et jede Gebärde ein Gegenüber, an dem sie ange­heftet wird. Wie eine Brosche, oder eben — ein Manöver. Denn jed­er Druck manip­uliert: Er knickt Ell­bo­gen und dreht einen Hals. «Das Frontal­hirn feuert diesel­ben Neu­ro­nen, ob wir berührt wer­den oder andere berührt sehen. Was auf die Empathieleis­tung des Men­schen hin­weist» säuselt der Sprech­er. Oder auf das Know-how sein­er Manip­u­la­tion. Ein­füh­lung und Ein­wirkung gehen oft Hand in Hand wie Cherkaouis Paare es zeigen: Ineinan­der ver­trackt und verzah­nt hantieren sie aneinan­der herum, kein Men­sch weiss mehr, wer steuert und wer reagiert. Eine Bewe­gungs­maschiner­ie mit vier Ell­bo­gen und zwei Hälsen, Impuls­ge­ber und ‑empfänger in einem. Faszinierend.

Als let­ztes, nach schwindel­er­re­gend gedreht­en und getürmten Riesen­wür­fel auf der Bühne, erfasst eine sehr erdene Bewe­gung das Ensem­ble. Eva (Navala Chaud­hari) ver­führte bere­its Adam, schlangen­gle­ich wand sie sich an ihm hoch und runter, umschlang ihn mit den Beinen und zog ihn, den Erschöpften, schliesslich zu Boden. Ein ful­mi­nan­ter erd­ver­hafteter Tanz bre­it­et sich da aus. Mit nack­tem Oberkör­p­er ist die Eva-Fig­ur mal Nymphe, mit glänzen­der Haut dann wieder Schlange. Sie bäumt und wölbt sich in alle erden­kliche Rich­tun­gen, sie schleud­ert die Extrem­itäten des einen Kör­peren­des zum anderen, ein viel­seit­iges Vorankom­men (wüsste man nur, wo das Ziel ist). Beu­gen und schwin­gen lässt es sich vorzüglich auch mit anderen, und so steckt sie im Nu die Meute um sie herum an, alles kreucht und fleucht, über­sät den gesamten Boden. Der Atem verbindet sie und schweisst die Bewe­gung zu einem Guss. Er macht die Energie hör­bar, wie sie in ein­er fliessenden Spi­rale im Über­schwang die Kör­p­er immer wieder hochschraubt und sich mannshoch entlädt. Oder saugt der Atem samt hochfliegen­der Arme an diesen Wen­depunk­ten dem Him­mel Kraft ab, um sie im Kreis auf den Boden gewun­den zu erden? Eine Trance der Wieder­hol­ung zwis­chen den Gegen­sätzen. Eksta­tisch.

Doch wie fol­gt eine Bewe­gungssprache aus der anderen? Wie löst die faszinierende die gewaltige ab, warum fol­gt die eksta­tis­che danach? Chronolo­gie im Werk ist seit Cun­ning­ham & Cage als ein Zufallsspiel ent­larvt. Doch im Gegen­satz zu jenen schürt Sidi Lar­bi Cherkak­oui mit viel Sym­bo­l­ik unsere Erwartung. Verknüpft sind die ver­schiede­nen Bewe­gungssprachen lediglich durch Worte, die wohlweisslich lose perlen kön­nen, nicht nur seit dem Fall von Babel. Wir find­en keine Strin­genz in der Bewe­gungs­dra­maturgie, noch eine chore­ografis­che Hand­schrift (zumal zwei zusam­me­nar­beit­en: Damien Jalet ist langjähriger Co-Chore­ograf). Die stilis­tis­che Eklek­tik ist Merk­mal der Chore­ografen-Garde, die wie Cherkaoui aus der Wiege der Com­panie C de la B stammt. Wir lassen die Eklek­tik, spek­takulär an diesem Abend darge­boten, dem gefeierten Wun­derkind Sidi Lar­bi Cherkaoui des The­mas zuliebe gern durchge­hen. Zur Sprachver­wirrung paart sich Tanzvielfalt. Doch nach dieser Trilo­gie warten wir auf eine Läuterung. Auch Genies, nicht nur ara­bis­che, ver­tra­gen ein Fas­ten.

Das Fes­ti­val Steps ist und bleibt ein­er der Höhep­unk­te im Tan­zange­bot der Schweiz, das dur­chaus auch im Aus­land als solch­er wahrgenom­men wird. Wir freuen uns auf die näch­ste span­nende Aus­gabe.

Der Aus­blick auf einige aus­gewählte Tanzevents für den Som­mer lesen Sie auf
tanzkritik.net

Bild: Bruno Bel­trão & Grupo de Rua, Brasilien / Foto: B. Bel­trão
ensuite, Juni/Juli 2010