Von Kristina Soldati — Drei in der Schweiz tätige Choreografen bereiten neue Tanzabende für uns vor. ensuite — kulturmagazin sprach mit ihnen:
1. Pablo Ventura Dance Company
das letzte Jahr der garantierten Selbstverwaltung Hong Kongs war 2046. 2046 ist auch der Name einer fiktiven Stadt, zu der man eine Raum-Zeit-Reise durchs All unternehmen kann – um (ausgerechnet!) seiner eigenen Vergangenheit zu begegnen. Sie gab dem Film des Chinesen Wong Kar-Wai den Namen, der eine Auszeichnung beim Europäischen Filmpreis 2004 erhielt. In einnehmenden atmosphärischen Bildern malt er darin eine kurze Science-Fiction-Episode, die Rückreise aus der zeitlosen Stadt. Die Episode heisst entsprechend «2047» und ist ein Schlüssel zur (Film-)Wirklichkeit, zum Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Genau diese filmische Schlüsselepisode, die Raum-Zeit-Reise, nimmt der Choreograf Pablo Ventura als Unterlage für sein neues Stück «2047».
Das Tanzstück ist die Abkehr von seiner Artificial-Intelligence-Labor-Forschungsarbeit, welche er an der Universität Zürich betrieb. Die wissenschaftliche Kollaboration mit Daniel Bisig und anderen sollte einen tanzenden Skelett-Roboter generieren. Dem Tanz wäre damit aber nicht viel gewonnen.
Er hatte bereits eine tanzende Frühversion dieser Maschine im Schlussteil seiner Trilogie «De Humani Corporis Fabrica» seinen Tänzern (triumphierend?) gegenübergestellt. Als er im Anschluss sich rein technischen Installationen auf Cyber-Tagungen, beispielsweise in Singapur, zuwandte, schien er der Tanzwelt abhanden zu kommen. Die kubische Bewegungsskulptur, die live auf Menschen und Reize reagierte, war mehr Spektakel denn Kunst.
Welcome Back to (dance) reality! Nun wendet er sich also vom Roboter ab und formt wieder Gestalten aus Fleisch und Blut. Ganz wie der Protagonist der Filmepisode «2047», der am Ende der Raum-Zeit-Reise erkennt, dass er sich von seiner Liebe zu einem Androiden lossagen muss…
«Ich habe die letzten 10 Jahre viel gelernt bei der Arbeit mit dem Computerprogramm Life Forms». Dieses Programm entwickelte man mit Merce Cunningham für dessen zufallsgenerierte Posenpuzzle-Technik. Bei Pablo Ventura werden aber nicht wie beim berühmten Meister wiedererkennbare (Ballett-)Versatzstücke durchmischt, sondern die Knochen selbst, scheint es. Schaut man sich in der Library um, der Posensammlung des Softwareprogramms, glaubt man sich im Gruselkabinett. Gelenke türmen sich übereinander, begraben Figur samt Kopf. Eine Sequenz, das heisst zehn bis fünfzehn solcher Monstrositäten, nennt sich «Phrase» und wird den Tänzern wie eine Partitur ausgeteilt. Diese studieren die Abfolge und ihre sekundenbruchteilgenaue Dauer. Doch wen wundert’s, dass sie nicht wissen, wie sie in die Posen hinein- und wieder hinausfinden? Dafür wird der Hexenmeister gerufen. «Besonders wenn es zum Boden geht, muss ich her. Das Programm Life Forms sagt nichts über Gravität aus. Wie man am Handlichsten mit ihr umgeht, zeige dann ich.»
Ich denke wie Life Forms Wochenlang wurden die Phrasen, die die Choreographic Machine herausspuckte, einverleibt. Zum Glück mit einem gehörigen Anteil an repetitiven Posen. Aneinandergereiht sind sie einfach ein Standstill, eine Verschnaufpause. « Wir haben 30 Minuten an individuellen Phrasen verarbeitet. Das halbe Stück steht. Diese Woche gab ich den Befehl ‹cut and paste› den Tänzern. In früheren Stücken machte ich diese Arbeit am Computer. Mittlerweile denke ich in seiner Begrifflichkeit und die Tänzer verinnerlichen sie. Sie können vom Fleck weg die Phrase A der Beine mit der Phrase B der Arme verbinden.» Was herauskommt, ist überraschend. Keine Spur von einer intentionalen choreografischen Handschrift. Oder doch?
«Welche Qualität die Verbindungswege der Posen haben, bestimme schon ich. Und meine Arbeit ist sehr kontrapunktisch. Während die Frauen Androiden sind, mit einem unfokussierten verlorenen Blick, ist der Mann als einziges menschliches Wesen kommunikativ. Und in der Form: Während die einen sich zu Boden schrauben, darf ein anderer durchaus in die Höhe springen.»
Wenn demnächst noch der Befehl erfolgt: Kopiere die Beinarbeit des Nächsten zu deiner Linken und die der Arme zu deiner Rechten, (Ausdruck von genetischem Transfer?) sind wir berufen, Mensch und Android zu entflechten und zu dechiffrieren. Auf, auf zum Decodieren!
Tanzlandschaft Zürich
ensuite — kulturmagazin: Mit sechs virtuosen Tänzern und technologisch anspruchsvollster Ausstattung: Sie arbeiten mit dem Medienkünstler Christian Ziegler zusammen, der Forsythes berühmte CD-Improvisation «Technologie» herausbrachte. Wie schätzen Sie die derzeitige Lage für anspruchsvollen Tanz in der Schweiz ein?
Pablo Ventura: Früher musste man fünf Monate im voraus buchen, um einen Proberaum zu ergattern. Nun scheint es sehr leer hier. Dabei stürzt man sich als Tänzer im Herbst in die Arbeit. Ob das von einer Krise herrührt, weiss ich nicht. Ich habe diesmal nur Unterstützung von der Stadt Zürich. Was ich Herrn Ziegler, (Komponist und renommierter Videokünstler) zahlen kann, ist eine symbolische Summe, für die ich mich schäme. Was die Förderer gutheissen, scheinen Kleinprojekte zu sein. Ich visiere aber auch grosse Theater zum Gastieren an. Dass die grösste Stadt der Schweiz es sich nicht leisten kann, eine mittelgrosse Companie, ein überwiegend schweizerisches Team, zu unterstützen, ist entmutigend.
Dann sollten Sie mit Cathy Sharp Rücksprache halten, sie scheint das kulturpolitisch fortschrittlichste Baselland seit 18 Jahren hinter sich zu haben.
Sie kann von Glück sprechen, dort ihr Standbein zu haben.
Und was halten Sie von der Präsenz des Tanzes in den Medien?
Die Ankündigung von Gastcompanien funktioniert hier sehr gut, auch die Vorbesprechung ihrer Stücke. Nachbesprechungen und Kritiken nehmen ab, scheint mir. Die lokalen Companien, wenn sie denn nicht Teil eines Trends sind, haben es schwer, bekannt zu werden. Mir fehlt seit zehn Jahren die Möglichkeit, mein Publikum heranzuziehen. Meines kommt – ironischerweise — nicht aus der zeitgenössischen Tanzszene. Meine Stücke besuchen ein breit interessiertes Tanzpublikum und Liebhaber von Architektur und Videokunst.
2. Cathy Sharp’s Company besinnt sich
Cathy Sharp, Ihre Company ist 18 Jahre alt. Sie ist gut etabliert und erfolgreich. Warum führen Sie im Titel Ihres neuen Tanzabends «The Urgency Of Now» den Zusatz «pure dance»?
Cathy Sharp: Ich wollte das nicht an die grosse Glocke hängen..
Sie setzen den Zusatz auch in Klammer…
Ja, eben. Mit diesem Programm gelingt es uns, uns wieder auf das ursprüngliche Profil und die künstlerischen Werte der CSDE zu besinnen. Wir haben nunmal keine besonders theatralische oder performative Ausrichtung. Auch wenn — wie das letzte Stück mit der experimentellen Musikgruppe Stimmhorn zeigt — wir da ganz offen sind. Also: Wir bieten puren Tanz. Der kommende Tanzabend vereint Werke, die choreografisch sehr dicht sind und Gültigkeit besitzen, ohne jeden Schnickschnack. Sie wurden vor zehn Jahren für uns geschaffen. Und sie sind es wert, zu überdauern.
Spannende Konfrontation mit der Vergangenheit.
Als die beiden Choreografen der Stücke, Nicola Fonte und Philippe Blanchard, mir damals empfohlen wurden, waren sie sehr junge, aufstrebende Talente. Unsere Companie dagegen war bereits reif, auch dem Alter nach. Jetzt verhält es sich umgekehrt. Die derzeitigen Tänzer sind so jung wie Fonte und Blanchard es damals waren — dynamisch und ausgesprochen bewegungshungrig. Es ist ein spannender Prozess zu sehen, wie gereifte Choreografen sich ihren Frühwerken stellen.
Ein solches Bewusstsein für Repertoirpflege ist selten im modernen Tanz.
Das ist richtig. Der junge Nicola Fonte kam damals gerade von der Nationaltanzgruppe in Madrid (Compania Nacional de Danza) unter der Leitung des begehrten Nacho Duato (einem ehemaligen Jiri-Kylian-Assisten). Er mag dort für Repertoirpflege einen Sinn entwickelt haben. Ich tanzte mit Heinz Spoerli in Montreal. Auch wenn er klassischer ist als ich, den Wert eines Repertoires, die Wiederbelebung wichtiger Werke teilen wir. Das Auffrischen aus eigener Hand aus zeitlicher Distanz lässt Relevantes erst richtig hervorkommen.
Jiri Kylians Stil ist, zeitgenössische, aber auch ethnologische Elemente für (klassisch) voll ausgebildete Tänzer fruchtbar zu machen, oder umgekehrt ausgedrückt, das Spektrum zeitgenössischen Tanzes durch anspruchsvolle Technik zu dehnen. So etwas schaffte noch Mats Ek. Der Stil, der auf der Verschmelzung auf hohem Niveau beruht, hat nie eine so breite populäre Verbreitung gefunden wie die experimentelle Performance-Art zum Beispiel. Liegt das etwa an den Anforderungen ?
Ja, meine Tänzer müssen sowohl im klassischen Tanz bestehen können, als auch im modernen und zeitgenössischen Tanz zu Hause sein. Sie befinden sich an der Schnittstelle beider Stilrichtungen. Und das schmälert sehr die Auswahl beim Vortanzen.
Dafür bieten Sie im Gegensatz zu anderen Gruppen der freien Szene und den dort üblichen Projektverträgen Saisonverträge an, einen weitsichtigen Spielplan und mit Ihren beruflichen guten Übersee-Beziehungen jährlich monatelange Tourneemöglichkeit.
Ja, auch wenn dies nur 50-Prozent-Stellen sind, meine Tänzer danken es mir mit Treue. Ich wollte von Anbeginn eine Companie gründen, die ich mit langem Atem ausbilden konnte. 30 Vorstellungen und zwei Produktionen jährlich (je eines für Baselland und Baselstadt) fordert und fördert sie.
Sie touren weniger in der Schweiz. Im Rahmen von Steps waren sie zweimal dabei. Passen Sie nicht in den Trend der übrigen Festivals?
Wenn die Festivals einem Trend folgen müssen, dann tut es mir Leid. Sie profilieren sich untereinander gar nicht so sehr. Man hat den Eindruck, manche Companien touren von Festival zu Festival.
Was bietet in Ihren Augen derzeit die Medienlandschaft für den Tanz?
Ich bin ganz einverstanden mit Heinz Spoerlis Anaylse, dass weniger Tanzkritiker engagiert sind. Und dass sie eine Ausbildung benötigen. Auch wir beginnen nicht gleich als Primaballerina. Und dazu gehört die Mobilität. Wenn die Zeitungen das nicht leisten, müsste man fast erwägen, ob nicht der Tanzdachverband diesen Beruf und seine Mobilität unterstützt. Bei uns kommen meist nur Kritiker aus Basel und Freiburg in Breisgau vorbei. Umgekehrt erfährt man in lokalen Zeitungen auch zuwenig von der Westschweiz. Tänzer und Choreografen sind mobil, sie holen sich ihre Inspiration frisch an der Quelle bei ihren Kollegen schweizweit. Kritiker sollten wohl ähnlich beweglich sein. Der Tanz und seine Arbeiter in den Studios brauchen aber Feedback und wollen ihre Arbeit unters Volk getragen wissen. Da reichen unsere Poster und Flyer nicht. Auch das Verschwinden der Fachzeitschrift von Gerhard Brunner ist ein Verlust: Sie hinterlässt eine Leere in der Fachpresse. Die Tanzwelt wartet mit Spannung, was sie füllen mag.
3. Femme Fatale in Maud Liardons «Zelda zonk»
Marylin Monroe hat sich mit 36 Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben genommen. Ein berufliches Leben in Glamour kollidierte mit einem unerfüllten Privatleben. Ihr eigenes Image, mit dem sie reüssierte, wurde ihr zum Verhängnis. Was in ihrem Innersten abging und sie nie wirklich ausdrücken konnte, interessiert nun die gebürtige Genferin Maud Liardon.
Auch sie ist 36 Jahre alt und hat eine erfolgreiche (Tanz-)Karriere hinter sich. Und auch ihr Privatleben blieb dabei eher finster. Diese Ähnlichkeit, ganz unter Beachtung der unterschiedlichen Proportionen, wie sie gesteht, berühre sie. Das Image, das man von Tanzinterpreten hat, suchte sie bereits in ihrem ersten Stück «Arnica 9CH (my life as a dancer)» zu untergraben. Schmerzpillen und banale Gedanken begleiten dort visuell und akustisch ein Solo, das den Fingerabdruck von Giganten wie William Forsythe und Trisha Brown zu tragen scheint (deren Stücke sie mehrfach tanzte). Im neuen Stück geht Maud Liardon Marylin Monroes Zerbrechlichkeit hinter der Fassade auf die Spur. Als Zelda Zonk, ein Pseudonym, das sich Marylin bei ihrem Aufbruch nach New York zugelegt hatte, kontrastiert sie die leichte Gangart der Musicalästhetik der 50er mit den möglichen Gedanken der Depressiven in ihrer letzten Stunde.
Und hat sie bereits ihren eigenen Bewegungsstil? «In ‹Arnica 9CH› war das Bewegungsmaterial eher ein Vorwand, um meine Kommentare und Brechungen anbringen zu können.» Nun, dieser Vorwand war auf höchstem Niveau. Doch auch nun dienen ihre Bewegungsrecherchen anhand von Filmmaterial aus den 50ern eher zur Illus-tration des Widerspruchs bei Marylin, meint sie. Dabei kann Spannendes herauskommen. Und vielleicht summiert sich all dies einmal zu einem unverwechselbaren Liardon-Stil.
Denkt sie daran, Material auf mehrere zu verteilen und miteinander zu verweben? Denkt sie an andere Tänzer? «Nein, ich habe noch Angst. Professionnelle Tänzer haben Erwartungen, wie Proben vorankommen sollten. Ich arbeite derzeit sehr langsam. Das wäre auch ein organisatorischer Druck. Und in dieser Phase, wo ich thematisch sehr intime Inhalte abtaste, bräuchte ich sehr vertraute Tänzer. »
Hat sie für den Start als Choreografin eine gute Piste? «Nur hier in Genf konnte mir der Start gelingen. Die Dichte der Tanzschaffenden und ‑veranstalter, die sich hier begegnen, ist sehr förderlich. Die Ermutigung, die Subventionen und kostenlose Proberäume, nur hier konnte ich durchstarten. In Paris oder Schweden hätte ich bereits Studios anmieten müssen.»
Hat sie von einer – zwar sehr kurzen – Weiterbildungsmöglichkeit für aufstrebende Choreografen in der Schweiz gehört? « n Zürich? Nein. Das wäre aber eine Chance, mich zu entwickeln und neue Bahnen zu eruieren, neue Dynamiken auszuprobieren. Ich hatte bislang noch nicht die Gelegenheit, an sowas zu denken. Bislang hatte ich auch noch nicht viel mit der Presse zu schaffen. Erst die Auswahl für die Zeitgenössischen Schweizer Tanztage verhalf mir zu Gastspielen und im Anschluss zu den für Subvention und Promotion so begehrten Presseberichten.»
Bis die Rückenprobleme, die die anspruchsvolle Profitänzerin in die Knie zwangen und feste Verträge vereitelten, auch ihre Ein-Frau-Shows verhindern werden, sollte sie ihre Sprache gefunden haben, die andere für sie sprechen werden. Tanzend.
Bild: Maud Liardon in «Zelda Zonk» / Foto: Sandra Piretti
ensuite, November 2009