Von Lukas Vogelsang — Was für ein Jahresanfang! Da denkt man nichts Böses und startet das Jahr mit Hoffnungen und Vorsätzen, Plänen und Ideen, und schon nach zwei Wochen hat sich die Realität verschoben und kein Stein scheint mehr auf dem anderen zu liegen. Der Schock steckt vielen noch in den Knochen. Allerdings, war das alles wirklich so unvorhersehbar? Der IS hat den Krieg schon lange ausgerufen – nicht erst gestern. Und einen Krieg können nur alle beteiligten Parteien zusammen beenden. Und das ist offensichtlich noch nicht geschehen.
Das gleiche Szenario haben wir mit dem Euro-Sturz. Von wegen Überraschung: Drei Jahre lang wurde dieser Kurs künstlich stabilisiert und die Schweizerische Nationalbank hat das immer wieder deutlich kommuniziert. Doch statt darauf hinzuarbeiten, was sein würde, wenn diese Wirtschaftssubvention ein Ende haben wird, genoss man den neuen Wohlstand in Sicherheit. Wir haben einfach vergessen, was die Realität ist. Und wie erstaunlich, dass die Börsen fast ins Bodenlose stürzten. Nick Hayek, Chef des Bieler Uhrenherstellers Swatch, schlug dabei grosse Töne an. Natürlich wurde nicht erwähnt, dass sein Unternehmen erst kurz zuvor an der Zürcher Bahnhofstrasse ein Haus für geschätzte 400 – 500 Millionen gekauft hat. Welch Luxus! Und er sagte in diesem Zusammenhang auch nicht, dass er am 6. Januar in einem Interview mit watson.ch meinte: «Ein bisschen Chaos ist nicht schlecht.» Ebenso die neuseeländischen Broker, welche nach angeblichen Millionen-Verlusten innerhalb von den ersten 6 Stunden Bankrott meldeten, erzählen nicht, mit wie vielen Milliarden sie auf der Subventionsstütze der Schweizerischen Nationalbank spekulierten. Bereits nach ein paar Tagen wurden allgemein die Stimmen gemässigter. Das Vertrauen zur SNB war fast wieder hergestellt. Eben, man wusste drei Jahre lang genau, dass dieser Tag kommen würde. Und nebenbei darf nicht vergessen werden, dass in Krisenzeiten die Luxuswirtschaft die besten Umsätze macht. Das zeigte unter anderem SRF im Jahr 2009 in einem Beitrag der Rundschau.
Realitäten kann man ganz unterschiedlich betrachten. Es gibt die «gleiche Betrachtungsweise» nicht, da Menschen nie den identischen Erfahrungshorizont haben können. Wenn ich «Baum» schreibe, denken Sie, liebe LeserInnen, gleich an ihr eigenes Bild von einem Baum. Der hat wahrscheinlich nicht viel mit meinem Baum gemeinsam. Und deswegen gibt es «die Realität» wohl nicht, denn das Abbild davon in unserer Wahrnehmung ist ein Einzigartiges. Ich zweifle auch sehr, dass es «eine allgemeingültige Wahrheit» geben soll. Selbst eine mathematische Berechnung ist nur in ihrem mathematischen Universum korrekt. Unsere Versuche, allgemeingültige gesellschaftliche Betrachtungsweisen zu kreieren, haben also nichts mit Biederkeit oder Freiheitsentzug zu tun, sondern dienen eigentlich der gemeinsamen Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft. Wenn alle nur noch in «ihrer Realität» funktionieren, wird es zunehmend schwierig, gemeinsam auf diesem Planeten zu leben. Es braucht also «Normen». Damit möchte ich aber das «Chaos» nicht ausschliessen, denn eine Gesellschaft kann sich auch ideologisch in Mustern verrennen. Und dann braucht es notwendigerweise einen Neuanfang und Aufbruch.
Und genau das ist im Januar geschehen. Die einen reden von Angst, andere von Pleite, Unsicherheit, Panik und Schock. So viel Bewegung haben wir schon lange nicht mehr gespürt. Es scheint, dass wir uns selber dazu bringen, aufzubrechen und neue Horizonte zu definieren. Leben ist etwas Bewegliches. Das Leben verlangt nach uns. Wir müssen uns neu definieren. Sie müssen zugeben, liebe LeserInnen, dass sie in diesen Tagen mehrfach die aktuellen Nachrichten mitverfolgt haben. Unternehmer versuchen neue Lösungen zu finden. Man prüft, ob die gemachten Pläne noch funktionieren unter den neuen Spielregeln. Und die Einen haben sogar noch einen kleinen Gewinn gemacht. Riechen sie es in der Luft? Das ist der Geschmack des Aufbruchs.