Von Barbara Roelli — Haben sie sich auch schon überlegt was wäre, wenn sie beim Grossverteiler an der Kasse etwas fallen lassen? In der Hektik etwas aus dem Einkaufswagen heben würden – dabei nicht genügend fest zupacken, sodass es ihnen aus der Hand rutschte? Angezogen von der Schwerkraft würde sich das Lebensmittel so schnell dem Boden nähern, dass sie kaum Zeit hätten, einmal zu blinzeln. Mit einem dumpfen «Flop» würde der Joghurtbecher auf den Steinboden fallen, der Aluminiumdeckel könnte dem Druck nicht standhalten und würde reissen. Oder das Tetrapack Milch – es würde sich beim Aufprall wie eine Tischbombe entladen. Und unter all den glotzenden Augenpaaren, die hinter ihnen anstehen und endlich ihre Einkäufe bezahlen möchten, müssten sie die Folgen ihres Malheurs beseitigen.
Neulich im Coop hörte ich solch einen verräterischen Knall. Jemandem muss an der Kasse etwas zu Boden gefallen sein. Zwischen den Regalen recken die Kunden ihre Hälse. Der Knall war unüberhörbar und typisch für Glas, das zersplittert. Erst als ich mich in die Warteschlange einfüge sehe ich, was passiert ist. Unter dem Förderband ergiesst sich eine bordeauxrote Lache über den kalten Steinboden, die bereits vom Haushaltspapier daran gehindert wird, sich weiter zu verbreiten. Wie ein Schwamm nimmt das Papiertuch die rote Flüssigkeit auf. Bilder eines Tatorts. Grüne Glassplitter geben den Hinweis auf die Tatwaffe. Mitten in der Lache entdecke ich einen abgebrochenen Flaschenhals. Ungewöhnlich still stehen die Kunden an der Kasse an, wo das Unglück passiert ist. Betroffen schauen sie zu Boden und sind bemüht, nicht in die dunkle Pfütze zu treten. Langsam beginnt sie einzutrocknen…
Es war wohl eine Frage der Zeit, bis so etwas passieren würde. Dass einer austickt und auf den anderen losgeht. Vielleicht hat ihn der andere nur schräg angeschaut oder gesagt, er solle mit seinem Einkaufswagen nicht mitten im Weg stehen – es gäbe auch noch andere Leute, die zu den Regalen wollen. Und er, der in Ruhe einkaufen wollte und überfordert war, weil er sich zwischen all den Produkten – den über dreissig Joghurtsorten, zwanzig Fertigpizzen und Bananen, Max Havelaar oder Chiquita, entscheiden musste – er fühlte sich in seiner Freiheit angegriffen. Er müsse sich von einem Dahergelaufenen nicht sagen lassen, was er zu tun habe, und überhaupt ginge es ihn einen feuchten Dreck an, wie er sich durch die Regale dieses Ladens bewege. In diesem Land würde einem schon oft genug gesagt, was man zu tun und zu lassen habe. Er habe die Nase voll von all diesen Vorschriften! Und noch mehr habe er genug von solchen Kontrollfreaks wie ihm! Darauf konterte der «Kontrollfreak», dass es zum Glück Regeln gebe, weil sonst genau solche Anarchisten, wie er einer sei, die Schweiz in ein Chaos stürzen würden. Das war zuviel für den «Anarchisten». Kurzerhand schnappte er den Pinot noir, den er nach langem Auswahlprozess in den Wagen gelegt hatte, und ging damit auf den «Kontrollfreak» los, der Richtung Kasse flüchtete. An der Kasse holte ihn der «Anarchist» ein und wuchtete ihm die Rotweinflasche über den Schädel.
«Fräulein, sie sind an der Reihe», sagt ein alter Mann hinter mir. «Oh, Entschuldigung!», sage ich, und lege schnell meine Einkäufe auf das Förderband. Die Kassiererin grüsst mich und bemerkt: «Passen sie auf die Scherben auf! Da hat vorhin jemand eine Flasche Rotwein fallen lassen. Ist ja nicht weiter schlimm, kann jedem mal passieren.»
Foto: Barbara Roelli
ensuite, November 2011