Von Morgane A. Ghilardi — Oh Kanada — ein Land so neutral, so unaufdringlich wie die Schweiz. Abgesehen von schönen Berglandschaften, Eishockey und gutem Bier hat Kanada aber noch etwas anderes mit der Schweiz gemeinsam: Eine leidende Kinowelt. Wie so manches andere Land ist Kanada und auch die Schweiz von dem betroffen, was in besorgten akademischen Kreisen gerne als kultureller Imperialismus bezeichnet wird. Wir erleben dies als die Flut von Filmen meist amerikanischer Herkunft. In Kanada wird dieses Phänomen nachvollziehbarerweise verstärkt vorzufinden sein, da sie mit dem unwillkommenen Filmspender den Dialekt teilen. Weniger als 5% des Filmangebots in kanadischen Kinos ist tatsächlich kanadisch; die Frustration kulturell involvierter Leute ist also verständlich.
Eine ähnliche Entwicklung weiss man auch hierzulande zu beklagen. Im Verhältnis zu fremdsprachigen Filmen ist der Output an Schweizer Spielfilmen klein, wenn nicht kläglich. Jung- und Neufilmer scheinen im hiesigen Kino sowieso nichts verloren zu haben, denn mit Subventionen darf generell nicht gerechnet werden. Nur das Etablierte wird als finanziell sicher eingestuft; nur das geschmacklich Anerkannte als erfolgsmässig luftdicht angesehen. Übersetzt heisst das: Wer es vermag, den Glanz und Glamour Hollywoods zu imitieren, samt vorhersehbaren Storys, aber ohne Stars und gute Drehbücher, wird in die cineastischen Sphären zugelassen.
Gleichsam haben es Independent- und Jungfilmer in Kanada schwer, denn wenn es an Geld fehlt, kann nur schlecht gedreht werden. Schafft man es aber in die Produktionswelt einzudringen, hat man mit harscher Kritik und fehlgeleiteten Marketingideen zu tun. Paradebeispiel: «Foolproof» (2003). Der kanadische Gangsterfilm sollte so amerikanisch glamourös wirken, dass das kanadische Publikum jegliche Vorurteile gegenüber einheimischen Produktionen vergessen sollte. Nein, eigentlich sollte man gar nicht merken, dass es sich um ein Heimatprodukt handelte. Der Schuss ging in den Ofen. Wieso «Ocean’s Eleven»’s armen Bruder sehen gehen, wenn man die bessere, von Stars besetzte Version sehen kann.
Adrian Rainbow, gebürtiger Kanadier und Dozent an der Universität Zürich, stellte in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Film in Kanada fest, dass Minoritäten Kanadas sich im Gegensatz mit mehr Selbstsicherheit ans Kino heranwagen. Dahinter stecke der starke Wunsch nach Ausdruck und Wiederfindung innerhalb der Gemeinschaft, wie z.B. bei den Inuit, oder in Quebec, dem frankophonen Teil Kanadas. «Atanarjuat» (2001), der die Legenden der Inuit erforscht, oder «Bon Cop, Bad Cop» (2006), der sich seinerseits über den kanadischen «Röschtigrabä» zwischen der französisch- und englischsprachigen Region lustig macht, beschäftigen sich beide mit der Identität und Geschichte ihres Landes. Die Spezifität des Themas spricht damit ein bestimmtes Publikum an, und kann es sich leisten, der Nachahmung standardisierter Ästhetik zu entgehen.
Laut Rainbow scheint in den letzten paar Jahren aber auch das kanadische Kino generell zu mehr Selbstsicherheit gefunden zu haben. Filme wie «Away from Her» (2007) oder «Polytechnique» (2009), die mit dem Genie, dem kanadischen Äquivalent zum Oscar, ausgezeichnet wurden, zeichnen sich durch ihre stilistische und thematische Individualität aus. Kann es sein, dass hierzulande etwas ähnliches geschieht? Abstecher in die Welt des Genrefilms mit «Cargo» (2009) und «Sennentuntschi» (2010) sind vielleicht auch hier ein Zeichen der zunehmenden Selbstsicherheit. Doch es sei gesagt, dass das Vertrauen in das Gelingen von Projekten, die keine abgelutschten Schweizer Komiker ins Rampenlicht stellen, in Produktionskreisen klar noch nicht vorhanden ist, wie das Finanzierungsdrama um Steiners Gruselmärchen beleuchtete.
Welchen Schluss man aus dieser unbemerkten Verbundenheit zu Kanada ziehen muss, ist nicht ganz klar. Kulturpolitisch und filmtechnisch kann man voneinander lernen und profitieren, denn wer ein Leiden teilt, kann so manchen Vergleich im Krankheitsverlauf anstellen. Vor allem aber regt es vielleicht zur Hinterfragung der eigenen Filmlandschaft an – wieso ist unser Kino so, wie es ist, und könnte man etwas ändern? Welche Kultur wird repräsentiert, welche Ideologien werden stilistisch wiedergegeben? Wie viel wird in die filmische Individualität investiert? Sollten wir mehr Eishockeyfilme drehen?
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2010