Von Sonja Wenger — Schon Wissenschaftler der US-Universität Harvard haben das faszinierende System der sogenannten Dabbawalas aus Indiens Millionenstadt Mumai studiert. Es ist ein System, bei dem täglich Millionen sogenannter Dabbas, die in Indien weit verbreiteten Lunchboxen, oft über grosse Strecken zuerst von der Privatwohnung einer Person zu deren Arbeitsort und nach dem Mittagessen wieder zurück nach Hause transportiert werden. Die Dabbawalas sind zurecht stolz auf ihr System und es heisst, dass von sechzehn Millionen Lunchboxen nur eine ihr Ziel verfehle.
Als der indische Regisseur und Drehbuchautor Ritesh Batra zu einen Dokumentarfilm über die Dabbawalas recherchierte, bekam er von ihnen so viele Geschichten zu hören, dass er sich statt dessen für einen Spielfilm entschied. Und Kern seines Films sollte eben jene eine Dabba sein, die am falschen Ort ankommt. Eine charmante Idee und genauso charmant hat Batra seinen Film inszeniert, der nicht nur mit brillanten Darstellern aufwartet, sondern auch einen aussergewöhnlich realistischen Blick auf den indischen Alltag wirft, der einmal nicht vom elenden Leben in den Slums oder von der glitzernden Welt Bollywoods geprägt ist.
Bei Batras «The Lunchbox» geht es zwar auch um die grossen Fragen des Lebens wie Liebe, Glück und Tod, doch man ahnt es, die Gefühle gehen hier durch den Magen. Entsprechend sollte man sich dieses Film nicht hungrig ansehen, denn gleich zu Beginn kann man Ila (Nimrat Kaur) dabei zusehen, wie sie dem Mittagessen für ihren Mann den letzten Schliff gibt, bevor sie es in die Lunchbox packt und dem wartenden Dabbawala in die Hand drückt. Ila versucht – inspiriert von ihrer unsichtbaren aber wohlartikulierten Nachbarin vom oberen Stock – ihre Ehe zu retten, in dem sie spezielle Rezepte kocht, die die Gefühle wieder anregen sollen. Entsprechend hoch erfreut ist sie, dass die Dabba ihres Mannes vollkommen leergeputzt zurückgebracht wird. Als ihr Mann abends nach Hause kommt, verhält er sich jedoch so abweisend wie zuvor.
Bald dämmert es Ila, dass die Dabba falsch geliefert wird. Doch statt den Fehler zu melden, legt sie am nächsten Tag einen Brief an den unbekannten Nutznieser bei. Als sie darauf eine Antwort erhält, entwickelt sich in den folgenden Wochen ein schicksalshafter Briefwechsel der besonderen Art. Denn auf der anderen Seite sitzt Saajan Fernandez (Irrfan Khan), ein eigenbrötlerischer Buchhalter, der kurz vor der Pensionierung steht und der mit der Welt und den Menschen darin nur noch wenig anzufangen weiss.
Fernandez wirkt, als ob er seit dem Tod seiner Frau vor vielen Jahren nicht mehr gelächelt hätte. Der Kontakt mit seinen Mitarbeitern ist geprägt von korrekter Frostigkeit und seine Dabba bezieht Fernandez aus einem Foodshop von irgendwo, deren Köche sich nie mit etwas Besonderem hervorgetan haben. Entsprechend überrascht reagiert er auf die plötzlichen Köstlichkeiten. Und geradezu umwerfend sind jene Szenen, in denen Fernandez dank Ilas Essen immer mehr auftaut und sein Herz für andere öffnet.
Über weite Aspekte ist «The Lunchbox» eine klassische Liebesgeschichte aus vielerlei Ingredienzien, pikanten Details und mit viel feingliedrigem Humor. Doch gerade beim Briefwechsel zwischen Ila und Fernandez zeigt sich, dass der Beziehung respektive dem Austausch zwischen den beiden auch eine tragische Komponente innewohnt. Diese Komplexität, zusammen mit den semidokumentarischen Bildern des Filmes und einer dezenten, eingängigen Musik, machen «The Lunchbox» zu einem besonderen Genuss – und zu einem der besten indischen Filme des Jahres.
«The Lunchbox – Dabba», Indien 2013. Regie: Ritesh Batra. Länge: 104 Minuten.
Foto: zVg.
ensuite, November 2013