Von Belinda Meier — Theater braucht weder eine klassische Spielstätte, noch eine erhöhte Bühne, sondern lediglich einen Raum, den es als Theater zu definieren gilt. Wer den Sommer über Theater draussen erleben, und dabei vertrauten Orten einmal anders begegnen wollte, besuchte die Berner Freilichttheater.
Die Schauplätze der Berner Freilichttheater könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch stehen sie sich in ihrer Originalität und Bedeutung als Wahrzeichen ebenbürtig gegenüber. Das Theater Gurten thront auf dem Berner Hausberg, der seinerseits einen einzigartigen Blick auf die Stadt Bern und auf das zum Greifen nahe Berner Oberland bietet. Das Bärengrabentheater – sagt’s schon – nutzt den geschichtsträchtigen Ort des grossen Bärengrabens, um Theater stattfinden zu lassen. Beide, der Gurten und der Bärengraben, gehören zu Bern. Mehr noch: Sie prägen die Stadt, prägen deren Charakter. Ob der Ort nun beeindruckt, Assoziationen hervorruft, oder politische Bedeutung annimmt, spielt weniger eine Rolle. Dass er überhaupt etwas von all dem tut, ist viel wichtiger. Was die Berner Freilichttheater angeht, so ist eines sicher: Mit «Einstein» im Theater Gurten und «Warten auf Godot» im Bärengrabentheater hat jedes Stück die passende Bühne gefunden.
Einstein, der Mensch
Regisseurin Livia Anne Richard inszeniert mit «Einstein» ein realistisches Theaterstück. «Einstein» gibt ein Stück Zeitgeschichte wieder, wenn man so will, das trotz weltbekanntem Protagonisten Neues erzählt und zu überraschen vermag. Die Rede ist von Albert Einstein, dem Physik-Genie des vergangenen Jahrhunderts. Mit Arbeiten über die Brown’sche Bewegung, die Lichtquantenhypothese und die Spezielle Relativitätstheorie begründete Einstein seinen Weltruhm. Er formulierte die weltberühmte Gleichung E=mc² für die Äquivalenz von Energie. Und mit seinen weiteren Arbeiten zur Gravitation vollendete er schliesslich die Allgemeine Relativitätstheorie. Doch der ruhmreiche Wissenschaftler Einstein ist nicht zentraler Gegenstand des gleichnamigen Stücks. Alles was wir über ihn wissen, dient lediglich als Rahmen. Livia Anne Richard fokussiert in «Einstein» die private Person Albert Einstein. Sie zeigt ihn als Ehemann, Vater, Freund, Träumer, Denker, Introvertierten, zeitweise als Gefühlsarmen und Zerrissenen – kurz: als Menschen, dessen Bestimmung es ist, das Leben vollumfänglich der Wissenschaft zu widmen. Dafür erlangt er Weltruhm, muss allerdings auch Opfer verkraften. Welches diese Opfer in Einsteins leben waren, versucht das Stück auf behutsame Art und Weise zu vermitteln. Wir sehen Einsteins Unvermögen, seiner Familie gerecht zu werden. Wir sehen sein Unvermögen, das wissenschaftliche Denken abzulegen, und wir sehen sein Unvermögen, Emotionen zuzulassen, zwischenmenschliche Alltäglichkeiten zu bewältigen. Es ist keine Kritik, die in «Einstein» laut wird. Das Fenster, das uns Livia Anne Richard öffnet und durch das wir Einstein einmal ganz anders wahrnehmen und erleben können, bewirkt beim Betrachter vielmehr eine Art Einsicht oder Eingeständnis, dass Ruhm und Erfolg immer auch zwei Seiten haben. «Albert Einstein hat ein buntes, breites und pralles Leben gelebt, ein Leben, welches für sein nahes Umfeld Schatten geworfen hat. Dass er als genialer Denker nicht auch noch der perfekte Ehemann und Vater sein konnte, (…) ist zwar keine leichte Kost, folgt jedoch einer Logik und macht ihn zu einem Menschen aus Fleisch und Blut, mit Ecken und Kanten, mit Schwächen und Zweifeln», erklärt Richard.
Die Inszenierung Die Bühne zeigt einen Hafen mit Lagerhallen. Der riesige Schriftzug «Red Star Line» lässt keinen Zweifel offen: Es ist der Hafen von Antwerpen. Die «Red Star Line» ist die damals namhafte belgisch-amerikanische Reederei, die jahrzehntelang erfolgreich Passagiere auf dem Wasserweg von Europa nach Amerika und Kanada verschiffte. Wir befinden uns im Jahre 1932. Einstein (Oliver Stein) reist mit der Red Star Line in die Vereinigten Staaten. Er ist als Professor ohne Lehrverpflichtung an das Institute for Advanced Study in Princeton berufen worden. Noch weiss er nicht, dass er Deutschland endgültig verlassen wird. Zusammen mit seiner zweiten Frau Elsa (Christiane Wagner) und seinen beiden Stieftöchtern (Rebecca Graf und Maud Koch) wartet er auf das ankommende Schiff. Während des Wartens sehen wir ihn als Denker, als zerstreuten Professor, aber auch als Mitfühlenden, wenn es darum geht, Emigranten einen Platz auf dem Schiff zu verschaffen. Wir sehen zudem einen Mann, welcher der Wissenschaft stets Treue beweist, seinen Frauen gegenüber hingegen nicht. Die Wartezeit nutzt Einstein, um sein Leben Revue passieren zu lassen. Insbesondere denkt er an seine jungen Jahre zurück. Durch geschickt arrangierte Rückblenden, lässt uns Livia Anne Richard an der Vergangenheit Einsteins teilhaben. Wir erleben den jungen Einstein (Christoph Keller), der sich in die intelligente Mileva (Andrea Hofmann) verliebt und sich gegen den Willen seiner Eltern mit ihr verheiratet. Albert und Mileva zeugen insgesamt drei Kinder. Die Beziehung zwischen dem Paar und innerhalb der jungen Familie wird jedoch mit wachsendem Erfolg Einsteins schwieriger. Mileva fühlt sich einsam und als Mutter und Ehefrau allein gelassen. Hinzu kommt das grosse Interesse Einsteins an Elsa, seiner damals nur «guten Freundin». Trotz seiner Beziehungsunfähigkeit und seinem mit der Zeit respektlosen Verhalten Mileva gegenüber, nimmt seine Geschichte ein versöhnliches Ende. Denn es ist Einstein, der uns diese vergangenen Episoden erzählt. Er ist es, der uns in seine Vergangenheit zurückführt und damit auch offen legt, was unschön verlief. Einsteins Schlussmonolog macht dies abschliessend deutlich: Er äussert Zweifel und Schuldbewusstsein, räumt andererseits seine Verpflichtung der Wissenschaft gegenüber ein. Die Unvereinbarkeit des ruhmreichen Wissenschaftlers und liebevollen Familienvaters wird einmal mehr deutlich. Für eines von beiden musste er sich entscheiden. Einstein sei Dank: Bei ihm war´s die Wissenschaft. Mit «Einstein» beweist Anne Livia Richard ihr kreatives Geschick, unglaublich viele Informationen, eine grosse Schar Akteure und viele unterschiedliche Sprachen raffiniert und schlüssig miteinander zu verweben. Das Ergebnis: Ein lebendiges Stück und ein (Kunst-)Stück des Lebens. Christoph Keller und Oliver Stein gelingt es, die Wesenszüge, die Besessenheit und innere Zerrissenheit des jungen und alten Einsteins auf einfühlsame Weise darzustellen. Der emotionale und berührende Kern des Stücks wird jedoch von Andrea Hofmann als Mileva und Tim Spilka als Tete, Einsteins und Milevas jüngster Sohn, geschaffen. Gekonnt und mit der notwendigen Intensität lassen sie die Zuschauer am jeweils eigenen Schicksal teilhaben.
Warten auf Godot
Samuel Beckets Meisterwerk «Warten auf Godot» wurde 1953 in Paris uraufgeführt. Der Schauplatz von Regisseur Michael Oberers Inszenierung scheint wie geschaffen für dieses handlungsarme Stück zu sein: der karge Bärengraben, mitten drin ein Steinhaufen. Die Regieanweisung der Vorlage beschreibt den Ort mit: «Landstrasse. Ein Baum. Abend.» Die Voraussetzungen sind damit bestens ausgeschöpft. Der Graben, der sowohl Akteure als auch Zuschauende einschliesst, schafft eine unentrinnbare Nähe. Er ist nicht irgendeine austauschbare Spielstätte. Als historischer Ort ruft er Emotionen und Assoziationen hervor, die für das Stück von Bedeutung sind. So suggeriert er etwa Gefühle der Ausweglosigkeit und des Ausgeliefertseins – beides Grundstimmungen, die dem Stück zugrunde liegen.
Die Inszenierung Inhalt des Zweiakters ist das Warten der beiden Hauptfiguren Estragon (Markus Signer) und Wladimir (Horst Krebs), kurz Gogo und Didi genannt. Sie sind zwei Landstreicher, die sich in karger Umgebung auf einer Landstrasse befinden. Gogo ist der Warterei zeitweise überdrüssig, verliert die Nerven, beginnt zu jammern und wird schliesslich wieder durch Didi von der Notwendigkeit des Wartens überzeugt. Mit Ausnahme kleiner Unterschiede passiert in beiden Akten dasselbe: Gogo und Didi warten aus unbekannten Gründen auf Godot. Ausser Warten haben sie nichts zu tun. Deshalb vertreiben sie sich die Zeit mit Gesprächen, die meist sehr schleppend vorangehen. In beiden Akten wird das Warten von Pozzo (Uwe Schönbeck) und Lucky (Alexander Muheim) einerseits, und von einem kleinen Jungen (Hiroto Wyder) andererseits unterbrochen. Pozzo ist mit Peitsche ausgerüstet, führt Lucky an der Leine und setzt ihn dabei als Träger ein. Pozzo ist Tyrann, Lucky sein Sklave. Wieso das so ist, wird nicht hinterfragt. Pozzo gibt Befehle, Lucky führt sie aus. Pozzo regiert und diskriminiert, Lucky erträgt es. Der ebenfalls aus dem Nichts auftauchende Junge lässt beide Male dieselbe Nachricht ausrichten, nämlich, dass Godot morgen komme. Der zweite Akt zeigt den darauf folgenden Tag. Im Vergleich zum Vortag betreffen die kleinen Unterschiede hier einerseits das Bühnenbild und andererseits die Fähigkeiten der Figuren selbst. Der kahle Baum trägt so beispielsweise auf einmal grüne Blätter. Pozzo ist blind, Lucky taub. Auf die Frage, seit wann das so sei, reagiert Pozzo wütend. Er befiehlt, solche Fragen zu unterlassen. Gogo kann sich an nichts vom Vortag erinnern. Er spürt lediglich den Schmerz von Luckys Tritt. Seine Stiefel, die ihn am vorigen Tag noch drückten und die er deshalb auszog, sitzen ihm auf einmal wieder. Ob es wirklich seine Schuhe sind, kann Gogo allerdings nicht mit Bestimmtheit bestätigen. Der kleine Junge, schliesslich, erkennt bei seinem zweiten Auftritt Gogo und Didi nicht wieder. Das scheinbar Offensichtliche, das scheinbar Feststehende verflüssigt sich. Die vorhin noch als sicher angenommenen Zeitdimensionen verwischen. Die Auftritte von Pozzo und Lucky, sowie jene des Jungen, geben dem Stück und den Wartenden Struktur und dienen dadurch als Referenzpunkte. Durch die sonderbaren Veränderungen des Nicht-Mehr-Erkennens, des Taub- und Blindwerdens usw. schwinden diese Referenzpunkte. Wie das Warten so sind auf einmal auch die Auftritte der anderen Figuren nicht mehr fixierbar. Die geglaubte Struktur schwindet. Gogo und Didi, die zum Warten Verdammten, sind Beispiele dieser Strukturlosigkeit.
Wieso wir warten In Samuel Beckets Klassiker «Warten auf Godot», der in der Literaturwissenschaft unzählige Interpretationen hervorgebracht hat, steht das Warten im Zentrum. Weil das Warten keine Handlung, sondern eine Geisteshaltung ist, passiert so gut wie nichts. Dies wiederum können die handelnden Personen kaum ertragen und versuchen deshalb, sich die Zeit zu vertreiben. Ob mit «Godot» nun Gott gemeint ist und damit ein Warten auf die Erlösung Gottes impliziert wird, sei dahin gestellt. Sicher ist: «Warten auf Godot» wirft die Frage nach dem Sinn des Seins auf und verdeutlicht zugleich, dass das Warten auf etwas (Besseres) eine Haltung ist, die dem Menschen zugrunde liegt. Ein Stück, das trotz seines 58-jährigen Bestehens nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat.
Marcus Signer und Horst Krebs spielen ihre Rollen als Landstreicher, Wartende und sozial Ausgegrenzte sehr überzeugend. Die von ihnen geschaffene Situationskomik ist jedoch teilweise fast zu ausgeprägt. Die Grundstimmung des Stücks, nämlich die durch das Warten aufkommende Ohnmacht, droht dadurch überspielt zu werden. Uwe Schönbeck glänzt in der Rolle des herrischen, unberechenbaren Pozzo genau so sehr wie Alexander Muheim in jener des bedingungslos gehorchenden Lucky, der sein Leid wortlos erträgt, auf Befehl jedoch genauso auch zum endlos dahinratternden Monolog ausholen kann.
Foto: zVg. / Belinda Meier
ensuite, September 2010