Von François Lilienfeld — Während der «vacances horlogères» ist La Chaux-de-Fonds eine sehr ruhige Stadt. Jedoch, nicht jeder hat Lust – oder kann es sich leisten – in die Ferien zu fahren; und so beschlossen einige abenteuerliche Kulturfreunde 1993, für die Daheimgebliebenen mitten in der Uhrmachermetropole einen eigenen Strand – eben eine «Plage» — aufzubauen. Mangels Meer, Sand und Felsen sollten kulturelle Anlässe im Freien, teils auch im Zelt dargeboten werden. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten, und dieses Jahr fand das inzwischen größte Straßenfestival der Schweiz zum zwanzigsten Male statt.
Wieder wurde, mit über 90’000 Besuchern, ein neuer Publikumsrekord erreicht. Neben den Einheimischen kamen viele Besucher auch aus der Deutschschweiz und dem benachbarten Frankreich. Unter den Bewohnern der Stadt gibt es im Übrigen zwei Kategorien: Diejenigen, denen die ganze Sache zu wild ist und die daher Anfangs August in die Ferien gehen, und die Anderen, welche auf keinen Fall die Plage verpassen wollen!
La Chaux-de-Fonds bietet eine hervorragende Lebensqualität, begleitet von einem oft etwas kapriziösen Klima. Es ist der Organisation hoch anzurechnen, dass trotz zweier zum Teil verregneter Tage – es gab auch Hagel! — sehr wenige Vorstellungen ausfallen mussten. Man jonglierte – wie die Zirkusartisten – mit den Zeitplänen und den gedeckten Spielorten. Überhaupt, die Organisation: Sie klappt hervorragend und wird hauptsächlich von über 400 Freiwilligen getragen. Die meisten von ihnen sind Jugendliche, ich habe aber auch einen Exil-Berner getroffen, der noch mit 79 Jahren aktiv mithilft!
Wie der Name sagt, findet der Anlaß im Quartier der «Six-Pompes» statt, der sechs Pumpen, die den früheren Dorfbrunnen bilden. Das Wasser kann noch heute gepumpt werden, sehr zum Vergnügen der Kinder aus dem benachbarten Schulhaus. Man befindet sich im Kern der Altstadt, im Teil, der dem verheerenden Feuer von 1794 nicht zum Opfer gefallen war.
Natürlich fehlt auch die Fressgasse nicht, mit ihren regionalen und exotischen Spezialitäten.
Wie bei vielen Festivals gibt es ein In- und ein Off-Programm. Ersteres ist im Programmheft vorangekündigt und besetzt die größeren Spielorte. Die Off-Darbietungen werden von Tag zu Tag angesagt und finden auf kleinen Plätzen und an Straßenecken statt.
Ein Höhepunkt im diesjährigen In-Programm war «A Fuego Lento», eine mit viel Tangomusik und Feuerspielen interpretierte Liebesgeschichte voller Poesie und Leidenschaft, von der französischen Truppe Bilbobasso dargeboten.
Ebenfalls zu begeistern vermochte Roger mit seinem «Cabaret du Montreur», einer seltenen Kombination zwischen zumeist traurigen Marionetten und erotischem Tanz.
Einige In-Produktionen waren weniger glücklich gewählt und brillierten vor allem durch viele Dezibel (Rock’n’Roll Circus), blutige Effekte (Aux P’tits Oignons) oder allzu morbiden Humor (Les Pompes Funestes). Sehr schön hingegen «N’importe où hors du monde», die Geschichte einer wandernden Familie aus einem imaginären slawischen Land, die in und unter Bäumen eine provisorische Unterkunft findet und dies mit Hilfe von Akkordeon-Musik, Stelzen und viel Wodka auf unterhaltsamste Weise feiert. Das Publikum folgt der ziemlich verrückten Truppe Bonheur Intérieur Brut aus Frankreich auf Schritt und Tritt, Klappstühle mitzubringen ist also sinnlos…
Am meisten Höhepunkte bot heuer das Off-Programm. Da war z. B. eine urkomische Western-Parodie zu sehen, präsentiert vom Trio Infernul. Klassischen Straßenzirkus mit viel Boden-Akrobatik boten die Truppen LCD oder auch der «Cirque tu cric et tu crac», bestehend aus zwei jungen Mädchen, die noch mitten in ihrer Ausbildung an einer Zirkusschule sind und dank ihrer Geschicklichkeit und ihrem skurrilen Humor wohl noch eine interessante Zukunft vor sich haben.
Erstaunlich auch der Mann, der 35 Minuten lang die Zuschauer unterhält, indem er sie auf Bildtafeln versteckte Wortspiele entdecken läßt. Das Publikum, darunter viele Kinder, machte begeistert mit!
Die wohl schönste Produktion kam von der mini Compagnie. Unter dem Titel «Enivrez-vous» spielen drei Männer und eine Frau eine «angeheiterte» Szene mit Musik, von einem hervorragenden Akkordeonisten und einigen ungleich gefüllten Weingläsern, also einer Art Glasharfe gespielt. Dazu Pantomime und Bodenakrobatik, in der Geschicklichkeit, Zärtlichkeit und Humor sich die Hand reichen. Geradezu unglaublich zu sehen, wie das Mädchen im Kopfstand Baudelaire rezitiert, und dann auf dem Akkordeon tanzt, während dieses Instrument gespielt wird!
Zwei besondere Kuriositäten seien noch erwähnt: Im Zentrum des Festes, auf der Promenade des Six-Pompes, wurde ein Spielplatz aufgebaut mit Sandkästen und allerlei Geschicklichkeitsspielen, die allesamt aus wiederverwendetem Altmaterial – Holz, Metall u.a. — zusammengebaut sind. Und einige Meter weiter, in einem Hinterhof, baute die Schweizer Compagnie Balor et Traber einen «mechanischen Zoo» auf, unter dem Namen «Monstres et Machines». Auch hier wurde vollständig dem «Recycling» gefrönt. Man begegnete einer Riesenmarionette in Form einer watschelnden Ente aus Altmetall, einem Holzschuh-Xylophon, das mit menschlicher Kraft, mittels einer Tretmühle betrieben wurde, einer Messerwurfmaschine, und einem Grammophon, dessen Plattenteller und Uhrwerk auf einem Kinderwagen aufgebaut war, an dessen Rückseite ein ausgedienter Blech-Waschzuber die Rolle des Schalltrichters spielte. Ein wahres Wunderland!
Natürlich bietet das Festival auch Gelegenheit zu (Wieder-)begegnungen, Gesprächen und gemeisamen Mahlzeiten. Das «Zwanzigste» war ein Erfolg, wir freuen uns schon auf die kommenden August-Festivitäten!
Foto: zVg.
ensuite, September 2013