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Tour de Lorraine 10 — Alternativen säen

Von Alwin Egger — Es sind wahrlich keine gute Zeit­en für die Linke zu Beginn des neuen Jahrzehnts. Ins­beson­dere gilt das für die schweiz­erische Linke, die es nicht schafft, die wichti­gen sozialen Fra­gen ins Zen­trum der poli­tis­chen Auseinan­der­set­zung zu rück­en. Während die Fol­gen der Finanz- und Bankenkrise eine Umverteilung von unten nach oben in unglaublichem Aus­mass nach sich zieht, wird hierzu­lande haupt­säch­lich über Minarette und «Aus­län­der» disku­tiert.

In einem Formtief befind­et sich aber nicht nur die insti­tu­tionelle Linke, auch auf der Strasse kommt die Linke nicht vom Fleck und entwick­elt kaum Anziehungskraft über die üblichen Kreise hin­aus, obwohl dieses Sys­tem tagtäglich mehr Opfer pro­duziert.

Welch Unter­schied zur Sit­u­a­tion vor rund zehn Jahren, als die Demo gegen die WTO-Min­is­terkon­ferenz vom Mai 1998 in Genf eine all­ge­meine Auf­bruch­stim­mung aus­löste. Die weltweit beachteten Proteste in Seat­tle ein Jahr später waren die Fort­set­zung davon. In der
Schweiz fand dieser Auf­bruch in der Folge in den Auseinan­der­set­zun­gen um das WEF in Davos seinen Aus­druck und einige Jahre später auch seine Gren­zen. Ein Anspruch (min­destens eines Teils) dieser Bewe­gung war, dass inner­halb der Bewe­gung bere­its die Welt sicht­bar wer­den soll, die wir uns wün­schen. Fol­gerichtig engagieren sich viele der AkteurIn­nen seit jeher im Auf­bau eigen­er Struk­turen, sei das in Genossen­schaften, wo der Lohn­er­werb ohne Chef und selb­st­bes­timmt organ­isiert wer­den kann, oder in kollek­tiv­er Organ­isierung ausser­halb des Geldsys­tems, indem Nach­barschaft­shil­fe, Tausch­pro­jek­te, etc. aufge­baut wer­den.

Die 10. Tour de Lor­raine set­zt ihr Augen­merk auf solche beste­hen­den Net­zw­erke und Pro­jek­te, die auf den ersten Blick vielle­icht weniger spek­takulär sind als Demos oder mil­i­tante Aktio­nen, dafür aber vielfach einen nach­haltigeren Effekt haben und deswe­gen auch grössere Beach­tung ver­di­enen. Im Zen­trum ste­hen konkrete Pro­jek­te, die nicht nur auf der the­o­retis­chen Ebene, son­dern durch ihre Prax­is Kri­tik an der vorherrschen­den kap­i­tal­is­tisch-patri­ar­chalen Ord­nung üben und zugle­ich den Beweis antreten, dass das Zusam­men­leben und ‑arbeit­en bess­er funk­tion­iert und angenehmer ist, wenn es nicht von Konkur­renz- und Prof­it­denken bes­timmt wird.

«Es gibt kein richtiges Leben im Falschen» hat einst Adorno geschrieben. Und tat­säch­lich wäre es naiv zu glauben, dass das kap­i­tal­is­tisch-patri­ar­chale Sys­tem über­wun­den wer­den kann, indem sich ein­fach mehr Leute in solchen Vere­inen oder in anderen Kom­munen und Genossen­schaften organ­isieren. Ander­er­seits kön­nen gesellschaftliche Verän­derun­gen kaum über eine rein the­o­retis­che Auseinan­der­set­zung aus­gelöst wer­den. Mit der Exis­tenz von kollek­tiv­en, nicht-hier­ar­chis­chen Lebens- und Arbeits­for­men wird aufgezeigt, dass gesellschaftlich rel­e­vante Alter­na­tiv­en hier und jet­zt gelebt wer­den und somit die Vision ein­er befre­it­en Gesellschaft sicht- und greif­bar machen kön­nen. Nur in der Prax­is kann hier­ar­chie- und gewalt­freies Ver­hal­ten erprobt, geübt und erlernt wer­den und nicht in der Iso­la­tion der herrschen­den Warenge­sellschaft. Durch das Bilden von Net­zw­erken der gegen­seit­i­gen Hil­fe und die Beteili­gung an kollek­tiv­en Arbeits- und Lebens­for­men kön­nen wir unsere Leben­squal­ität steigern. Ins­beson­dere gilt das für diejeni­gen, die sich materiell an der Gren­ze des bürg­er­lichen Exis­tenzmin­i­mums bewe­gen.

An den Work­shops der Tour de Lor­raine wird ver­schiede­nen Pro­jek­ten eine Plat­tform geboten, ihre Ideen und Erfahrun­gen zu ver­mit­teln, sich untere­inan­der zu ver­net­zen und die Work­shop-Teil­nehmerIn­nen zu inspiri­eren, sich an ähn­lichen Pro­jek­ten zu beteili­gen. Damit die Linke im neuen Jahrzehnt wieder in die Offen­sive gehen kann, mit dem Selb­st­be­wusst­sein, dass sie die besseren Vorschläge zu bieten hat als klein­herzige iso­la­tion­al­is­tis­che SVP-Bün­zlis, bürg­er­lich-sozialdemokratis­che EU-Befür­wor­terIn­nen oder grüne tech­nokratis­che Öko-Kap­i­tal­istIn­nen.

ensuite, Jan­u­ar 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 29. September 2018