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Trash-Kult(ur) Vol. VIII: Klangmüll im Odysseum

Von Pas­cal Mülchi — Neben­beimusik hat unser Leben erobert. Aber sind wir uns dessen bewusst? Ger­ade beim Einkaufen erre­ichen uns per­fide, unerkan­nte Kauf­botschaften. Eine Reportage aus dem «Odys­se­um», dem grössten und neusten Einkauf­szen­trum der Mit­telmeer­metro­pole Mont­pel­li­er.

Die End­sta­tion der Tram­lin­ie 2 endet direkt im Parterre des Odys­se­um. Ich steige aus. Sogle­ich höre ich eine Frauen­stimme. Sie informiert mich und die Ank­om­menden – wir befind­en uns notabene draussen – über die Neuigkeit­en im Geschäfts- und Vergnü­gungsvier­tel. Ich gehe per Roll­treppe eine Etage höher. Die Sonne scheint. Mit­tler­weile tönt aus den Laut­sprech­ern des hau­seige­nen Senders so was wie Schmuse-Pop. Ich tippe auf Ronan Keat­ing. Ohne zu zögern steuere ich auf eine der rund 100 Bou­tiquen und Einkauf­s­lä­den zu. Ich lande im BigStar-Store. Drin­nen angekom­men, rieselt irgend so ein Hit­pa­raden­song über die Box­en. Ken­nen tue ich ihn nicht. Ich tue so, als ob ich Jeans kaufen wollte; mein Inter­esse gilt aber einzig der Musik. Ich gehe wieder, «au revoir!». Draussen erwarten mich wieder die Klänge des Odys­se­um-Senders. Dies­mal tippe ich auf Oasis. Dieses Rein-Raus-Spielchen wieder­hole ich nun einige Male: Foot­lock­er – Rap, draussen immer noch Pop, «Chuchilade» – Folk, draussen der selbe Stil Musik, H&M – Schmuse­pop. Im schwedis­chen Export­laden spreche ich einen wohl knapp 18-jähri­gen Jun­gen an und frage ihn, was er denn von dieser Dauerbeschal­lung halte? «Stören tut mich die Musik nicht speziell. Eher ist es für mich nor­mal», meint er. Eine Dame um die 50 sagt: «Ich finde das sehr angenehm.» Ich gehe weit­er zum Lebens­mit­tel­riesen «Géant Casi­no». Zu meinem Erstaunen werde ich da von zwei Klän­gen umhüllt. In der Pas­sage ertönt die hau­seigene Musik bzw. Wer­bung, sobald ich aber in den Bere­ich des Casi­nos komme, ertönt eine andere. Der Sécu­rité-Mitar­beit­er, der genau an dieser Ton-Gren­ze zum Recht­en schaut, ereifert sich, wenn ich ihn darauf anspreche: «Ja, das geht mir auf den Weck­er. Und zusät­zlich habe ich noch einen Stöpsel im Ohr, der mich mit meinen Kol­le­gen verbindet.» Aber das sei halt so, fährt er fort. Eine etwas ältere Frau, die ich eben­falls auf diese dop­pelte Beschal­lung anspreche, sagt: «Stören tut mich die Musik in den Läden eigentlich nicht. Grund­sät­zlich bevorzuge ich aber die natür­lichen Geräusche auf dem Markt.» Wieder draussen, und natür­lich berieselt vom Odys­se­um-Sender, antwortet mir ein junger Herr, dass er die Musik gar beruhi­gend finde. Eine rauchende Mit­dreis­sigerin, die hier arbeit­et, erk­lärt mir: «Die Musik fällt mir nicht mehr wirk­lich auf. Die per­ma­nente Beschal­lung ist etwas Alltäglich­es gewor­den.»

Musik ist im Einkauf­szen­trum Odys­se­um also eine per­ma­nente, nicht zu über­hörende Begleitung. Ihr zu ent­fliehen, ist unmöglich. Aber das will hier offen­bar auch nie­mand. Denn: die Mehr-heit der Befragten bei meinen zufäl­li­gen Stich­proben stört die chro­nis­che Sin­nesüber­las­tung nicht. Sie merken es gar nicht mehr. Genau­so wenig ist ihnen bewusst, dass mit der Beschal­lung Ambiance erzeugt und damit vor allem die Kau­flust angekurbelt wer­den soll. Einzig eine Per­son hat ver­mutet, dass die Musik vielle­icht zu diesem Zweck abge­spielt wird. Das Abhängigkeitsver­hält­nis vom Klang­müll wird deshalb offen­bar nicht mehrheit-lich wahrgenom­men.

Doch wovon will die Musik eigentlich ablenken? Klang­forsch­er Hannes Heyne meint im «Zeit­punkt» (Aus­gabe Januar/Februar 2011), von der realen Wirk­lichkeit, die mit dem Sicht­baren, Fühlbaren, Unzulänglichen ver­bun­den ist. Und von der Stille. Laut ihm ist die Kehr­seite zunehmender Ver­lär­mung der Ver­lust der Stille. Er rät, den eige­nen Anteil an der akustis­chen Reizüber­flu­tung zu über­denken – und eine Renais­sance der Stille einzuleit­en.

Nach über zwei Stun­den im Odys­se­um bin ich müde. Die Musik hat mich und meinen Gehörsinn angestrengt. Jet­zt tönt auch noch Bri­an Adams aus den Laut­sprech­ern. Jet­zt erst recht: ich flüchte ins Tram. Und weg bin ich – befre­it von diesem Klang­müll…

Foto: zVg.
ensuite, März 2011

Artikel online veröffentlicht: 12. Januar 2019