Von Pascal Mülchi — Nebenbeimusik hat unser Leben erobert. Aber sind wir uns dessen bewusst? Gerade beim Einkaufen erreichen uns perfide, unerkannte Kaufbotschaften. Eine Reportage aus dem «Odysseum», dem grössten und neusten Einkaufszentrum der Mittelmeermetropole Montpellier.
Die Endstation der Tramlinie 2 endet direkt im Parterre des Odysseum. Ich steige aus. Sogleich höre ich eine Frauenstimme. Sie informiert mich und die Ankommenden – wir befinden uns notabene draussen – über die Neuigkeiten im Geschäfts- und Vergnügungsviertel. Ich gehe per Rolltreppe eine Etage höher. Die Sonne scheint. Mittlerweile tönt aus den Lautsprechern des hauseigenen Senders so was wie Schmuse-Pop. Ich tippe auf Ronan Keating. Ohne zu zögern steuere ich auf eine der rund 100 Boutiquen und Einkaufsläden zu. Ich lande im BigStar-Store. Drinnen angekommen, rieselt irgend so ein Hitparadensong über die Boxen. Kennen tue ich ihn nicht. Ich tue so, als ob ich Jeans kaufen wollte; mein Interesse gilt aber einzig der Musik. Ich gehe wieder, «au revoir!». Draussen erwarten mich wieder die Klänge des Odysseum-Senders. Diesmal tippe ich auf Oasis. Dieses Rein-Raus-Spielchen wiederhole ich nun einige Male: Footlocker – Rap, draussen immer noch Pop, «Chuchilade» – Folk, draussen der selbe Stil Musik, H&M – Schmusepop. Im schwedischen Exportladen spreche ich einen wohl knapp 18-jährigen Jungen an und frage ihn, was er denn von dieser Dauerbeschallung halte? «Stören tut mich die Musik nicht speziell. Eher ist es für mich normal», meint er. Eine Dame um die 50 sagt: «Ich finde das sehr angenehm.» Ich gehe weiter zum Lebensmittelriesen «Géant Casino». Zu meinem Erstaunen werde ich da von zwei Klängen umhüllt. In der Passage ertönt die hauseigene Musik bzw. Werbung, sobald ich aber in den Bereich des Casinos komme, ertönt eine andere. Der Sécurité-Mitarbeiter, der genau an dieser Ton-Grenze zum Rechten schaut, ereifert sich, wenn ich ihn darauf anspreche: «Ja, das geht mir auf den Wecker. Und zusätzlich habe ich noch einen Stöpsel im Ohr, der mich mit meinen Kollegen verbindet.» Aber das sei halt so, fährt er fort. Eine etwas ältere Frau, die ich ebenfalls auf diese doppelte Beschallung anspreche, sagt: «Stören tut mich die Musik in den Läden eigentlich nicht. Grundsätzlich bevorzuge ich aber die natürlichen Geräusche auf dem Markt.» Wieder draussen, und natürlich berieselt vom Odysseum-Sender, antwortet mir ein junger Herr, dass er die Musik gar beruhigend finde. Eine rauchende Mitdreissigerin, die hier arbeitet, erklärt mir: «Die Musik fällt mir nicht mehr wirklich auf. Die permanente Beschallung ist etwas Alltägliches geworden.»
Musik ist im Einkaufszentrum Odysseum also eine permanente, nicht zu überhörende Begleitung. Ihr zu entfliehen, ist unmöglich. Aber das will hier offenbar auch niemand. Denn: die Mehr-heit der Befragten bei meinen zufälligen Stichproben stört die chronische Sinnesüberlastung nicht. Sie merken es gar nicht mehr. Genauso wenig ist ihnen bewusst, dass mit der Beschallung Ambiance erzeugt und damit vor allem die Kauflust angekurbelt werden soll. Einzig eine Person hat vermutet, dass die Musik vielleicht zu diesem Zweck abgespielt wird. Das Abhängigkeitsverhältnis vom Klangmüll wird deshalb offenbar nicht mehrheit-lich wahrgenommen.
Doch wovon will die Musik eigentlich ablenken? Klangforscher Hannes Heyne meint im «Zeitpunkt» (Ausgabe Januar/Februar 2011), von der realen Wirklichkeit, die mit dem Sichtbaren, Fühlbaren, Unzulänglichen verbunden ist. Und von der Stille. Laut ihm ist die Kehrseite zunehmender Verlärmung der Verlust der Stille. Er rät, den eigenen Anteil an der akustischen Reizüberflutung zu überdenken – und eine Renaissance der Stille einzuleiten.
Nach über zwei Stunden im Odysseum bin ich müde. Die Musik hat mich und meinen Gehörsinn angestrengt. Jetzt tönt auch noch Brian Adams aus den Lautsprechern. Jetzt erst recht: ich flüchte ins Tram. Und weg bin ich – befreit von diesem Klangmüll…
Foto: zVg.
ensuite, März 2011