Von Luca Zacchei — Nonno trinkt den hausgemachten Wein, währenddem eine Fliege zum wiederholten Mal den Ausgang nicht findet und gegen die Fensterscheibe prallt. «Vuoi provare?» fragt Grossvater und streckt mir das halbvolle Glas entgegen. «No, grazie», erwidere ich. Essig bräuchte ich im Moment nicht. Ich müsse schliesslich nicht Salat anmachen oder die Küche putzen. Grossvater rümpft die Nase. «Questo è vino di alta qualità!» – und ohne Zusatzstoffe, fügt er schnippisch hinzu. Die heutige Jugend wisse sowieso nicht, was wirklich gut sei. Wir würden ja schliesslich nur Coca Cola trinken und Hamburger essen. «No, non è vero», antworte ich. Es gebe aktuell eine Gegenbewegung: «Zurück zur Natur» laute die Devise. Bioprodukte seien wieder angesagt. Nonno legt eine Denkpause ein und kratzt sich am Kopf. Die Menschen seien seltsame Geschöpfe. Nur sie könnten die Industrialisierung vorantreiben, um dann später wieder Bioprodukte zu verkaufen, welche nota bene teurer seien. Hätte man nicht von Anfang an im Einklang mit der Natur anbauen können? Nonno hat eigentlich recht. Ich bin perplex. Wieso müssen Naturprodukte mit Bio-Labels angeschrieben werden? Das sind doch allesamt biologische Erzeugnisse! Logisch, dass es «bio» ist! Bio-logisch! Ich suche nach Erklärungen. Die Fliege macht in der Zwischenzeit auf dem Fenstersims Rast und lauscht ebenfalls mit. «Non sono completamente d‘accordo», wende ich ein. Die Industrialisierung hätte die Preise, nicht nur in der Landwirtschaft, stark gesenkt. Vieles sei dann endlich für jedermann preislich erschwinglich geworden. Früher hätten sich beispielsweise nur die Reichen Autos leisten können, behaupte ich. Jetzt überlegt Nonno still. Er erinnere sich wie damals, als er ein Kind war, die Trauben von Hand gesammelt und dann mühsam mit den Füssen im Weinfass gestampft wurden. Für diese Arbeit waren Kinderfüsse besonders gut geeignet. Maschinen gab es damals noch nicht. Ein süsslicher Duft lag in der Luft, der die Wespen in der Nähe magisch anzog. Beim Stampfen musste er jeweils aufpassen, die Insekten nicht zu zerquetschen, um allfällige Wespenstiche zu vermeiden. Seine Familie arbeitete für den «Padrone», dem das Land gehörte. Ja, es stimmt. Sie waren arm, währenddessen der Landbesitzer mit der Zeit immer reicher wurde. Die Produktion wurde penibel kontrolliert. Wenn beispielsweise auf dem Hof ein Lamm zur Welt kam, musste der Padrone unverzüglich darüber informiert werden. Sein Aufseher kam vorbei, kramte das Büchlein hervor und notierte es. So konnte er sicherstellen, dass sich die Bauern nicht hinter dem Rücken des Landbesitzers mit dem Verkauf bereichern konnten. Trotz Armut sei er aber ein glückliches Kind gewesen und hätte viel gelacht. Das Wenige, was man besass, teilte die Familie untereinander auf. Nach jeder Mahlzeit wurde aber der Brotkasten mit einem Schloss abgeriegelt, und der Schlüssel wurde vom Familienoberhaupt streng gehütet. Fleisch gab es nur bei grösseren Festivitäten und die Erwachsenen, welche auf dem Land hart arbeiteten, bekamen immer die grösseren Fleischstücke. Dann fügt Nonno hinzu, dass er, wenn er noch hungrig war, zwischendurch halt mit seinen gleichaltrigen Kumpels die Weintrauben des Landbesitzers stahl. «Nonno, sono scioccato!» platzt es aus mir heraus. Die Fliege klettert geräuschlos die Fensterscheibe hinauf. Ja, so sei es halt. Wenn man hungrig sei, dann müsse man selbst Hand anlegen. Als Kind hätten sie den Padrone gefragt, ob sie eine Handvoll Trauben haben könnten. Er hatte kategorisch verneint, der Geizhals: Wenn wir heute Trauben kriegen würden, würden wir morgen wieder kommen und Käse verlangen. Und übermorgen Prosciutto. Und so weiter, bis er verarmen würde. Nonno und seine Freunde verabschiedeten sich, zogen sich zurück und warteten auf die Dunkelheit der Nacht. Dann hätten sie so viele Trauben mitgenommen, wie sie gerade tragen konnten. Mit dem vollen Bauch hätte Grossvater zwar nicht sofort einschlafen können. Dafür war er satt. Die Fliege dreht jetzt völlig durch. Sie klatscht mehrmals und unkontrolliert gegen die Scheibe. Ich überlege mir, ob sich die Geschichte der Menschheit doch immer wiederholt. Nur die Kulisse ändert sich jeweils. Ich erzähle Nonno, dass die Padroni jetzt in der Wirtschaftswelt zu suchen seien. Sie sagen, wo es langgeht und sind mit dem Erreichten nie zufrieden. Stetiges Wachstum wird gefordert. Koste es, was es wolle. Das könne meiner Meinung nach nicht gut kommen. In der Natur gäbe es auch keine Pflanzen und Bäume, die in den Himmel wachsen. Wir hätten bereits so viel. Wieso müsse es immer mehr sein? Grossvater antwortet, dass wir möglicherweise die goldene Mitte finden müssten. Früher konnten die einfachsten Bedürfnisse nicht gestillt werden, jetzt kämen ständig neue hinzu, welche wir aber im Grunde genommen nicht wirklich benötigten. Stattdessen müssten wir dafür sorgen, dass die Trauben besser aufgeteilt werden, bevor die Unzufriedenen Selbstjustiz üben. Aber mit dem Menschen sei es wie mit dieser Fliege: Obwohl sie im Grunde weiss, wo genau die Freiheit liegt, lässt sie sich von ihren Augen täuschen und findet nicht hinaus. Ein paar weitere Anläufe sind notwendig. Er hoffe einfach, dass der Fensterspalt noch eine Zeit lang offen bleibe. Ich nehme das Glas meines Grossvaters und koste den Wein. Meine Grimasse spricht Bände: «È come l’aceto, te l’avevo detto! Buono solo per l‘insalata». Nonno lacht. Die Fliege brummt erneut, schlägt das letzte Mal gegen das Fenster und findet endlich die befreiende Lücke.
Foto: zVg.
ensuite, September 2013