Von Dr. Regula Stämpfli — «Americanah» ist der wichtigste Roman des 21. Jahrhunderts, 2013 geschrieben und mit unzähligen Preisen geehrt. Chimamanda Ngozi Adichie ist Feministin, Intellektuelle, Poetin. Eine Nobelmarke druckte ihren TED-Talk «We should all be feminists» auf ein T‑Shirt, sie wurde in «Flawless» von Beyoncé gesampelt und hat das erschütternde Buch «Trauer ist das Glück, geliebt zu haben» verfasst. Es ist kein Roman, dafür die poetische Auseinandersetzung mit dem Thema Verlust. Regula Stämpfli gehörte zu den Ersten, die Adichie im deutschsprachigen Raum eingeführt haben, ist durch deren Romane aufgeblüht und teilt deren Wut über die in der Linken so salonfähig gewordenen Pogrome gegen den Intellekt. Adichie ist mit dem schmalen Band wieder ein grosser Wurf gelungen: Sie verbindet Privates beiläufig und schlüssig mit menschenwürdiger Politik.
Jeden Sonntag trafen sich die Eltern plus drei Geschwister aus den USA und zwei aus Lagos per Zoom zum Chat. Die Verbindung nach Aba, südöstlich von Nigeria, rauschte, kratzte, stöhnte ab und an, doch sich zu hören und zu sehen war möglich und schön. Der Vater wie üblich nur von der Stirn her erkennbar, da er nie wusste, wie sein Handy auszurichten war, hörte die Kinder ständig rufen: «Dreh dein Handy, Dad.» Er lachte nur und begann von einem Multimilliardär in Nigeria zu erzählen, der am liebsten das ganze Land aufkaufen wollte. Er erwähnte nur kurz, dass ihm etwas unwohl sei, die Kinder sich aber keine Sorgen machen sollten. Zwei Tage später war er tot.
Das körperliche Verschwinden eines geliebten Menschen fühlt sich an, als wäre man amputiert worden. Ich weiss noch, als mein bester Freund 2015 völlig unerwartet starb. Mir wurde der Boden unter den Füssen weggerissen und ich vermisse diesen Seelengefährten fast jeden Tag. Der Schmerz hat sich verändert, geht aber nie wirklich weg. Chimamanda Ngozi Adichie ist die Hauptfigur der Eingangsgeschichte. Sie erfährt vom plötzlichen Tod ihres Vaters – zwei Tage nach ihrem Zoom-Call mit ihm, und sie schreit sich die Seele aus dem Leib. Ihre vierjährige Tochter ist seitdem verstört: Zu sehr hat sie der Anblick ihrer tobenden, weinenden, den Boden mit Fäusten bearbeitenden Mutter entsetzt. Chimamanda Ngozi Adichie ist die grösste Schriftstellerin unserer Tage, sie wird sich monatelang nicht erholen, nicht wissend, dass ihr Schmerz noch unerträglicher werden wird. Denn nur wenige Wochen später stirbt auch ihre Mutter innerhalb von wenigen Stunden. Der Arzt hat ihr eine völlige Fehldiagnose gestellt.
Die europäische Öffentlichkeit behandelt den Tod von Lebewesen so kaltschnäuzig wie die geschlachteten Tiere bei Tönnies. Geliebte Menschen zu verlieren ist in den USA viel einfacher, und zwar deshalb, weil die Trauernden ernst genommen werden. Weil sie nicht mit schalen, mitleidlosen Sätzen wie «Sie war doch schon alt» abserviert werden, sondern weil sie getröstet werden. Weil der Schmerz des Todes als den Bruch verstanden wird, der er ist. Die Fassungslosigkeit, die einen erfasst, wenn ein Mensch aus dem eigenen Leben tritt. Dieses Unglück, geliebte Eltern zu verlieren, die einem doch das ganze Leben begleitet haben – wer ist dann noch da?
Meine eigene Mutter bedeutete die Welt für mich. Sie inkarnierte mich nicht nur aus ihrem Leib, sondern geleitete mich zur unbändigen Lust, zur Freiheit, zum Humor und zur Liebe. Meine «Maman», die bis ins hohe Alter für Frankreich, die Romandie und ihren ehemaligen Liebhaber aus dieser Region schwärmte, starb eingehüllt in meine Arme. Sie ging, begleitet voller Liebe von ihrer jüngsten Tochter und ihren drei zauberhaften Enkelkindern, in ihrem 90. Lebensjahr. Die Sitte der Spitalkultur verbat es mir, zu schreien, zu toben, mir die Kleider vom Leib zu reissen, die Haare zu raufen und allen ins Gesicht zu klagen: «Stop the clock: She! Is! Dead!» Stattdessen musste ich meine übel gelaunten, viel älteren Geschwister informieren (ich hatte über 30 Jahre keinen Kontakt mehr), denen nichts Besseres einfiel, als zu kommentieren: «Nun ist dein Schätzeli-Dasein beendet, nicht wahr?»
Trauer über die menschliche Bedingung zum Tod äussert sich individuell und ist gleichzeitig doch so politisch. SchweizerInnen und Deutsche sterben meist nur mit Blick aufs Geld. Drei Viertel des Reichtums der oberen Schichten im deutschsprachigen Raum stammen aus Erbschaften. Dies hält die Trauer über den Tod eines weiteren reichen weissen Menschen wohl in Grenzen. Da Liebe unentgeltlich ist, wissen wohl die wenigsten in den protestantischen Gegenden von diesem Gefühl. Da haben es christlich inspirierte Kulturen wie Amerika und Teile des afrikanischen Kontinents einfacher: Sie sehen das Sterben als Teil des Lebens und Wirkens jenseits von Zahlen, Statistiken, vom Erben und Entsorgen, so wie uns hier in Europa der Tod vorgelebt wird.
Chimamanda Ngozi Adichie verleiht dem Grauen transformierende Poesie. Ihr Schmerz ist so mitfühlend präzise beschrieben, dass ihre Notizen darüber die eigene Welt verändern. Noch nie habe ich mich derart verletzlich gefühlt, gerade in dieser Zeit, in der die kalten Götter in Weiss uns Lebewesen unter «Inzidenz» versorgen. Chimamanda Ngozi Adichie tröstet und erschüttert zugleich. Ihr Büchlein ist literarischer Gesang pur. Es ist auch als Warnung zu verstehen an all die fehlgeleiteten linken Talibans – denn Trauer macht eminent politisch und wütend. Chimamanda Ngozi Adichie schreibt: «An all meine Feinde, aufgepasst! Das Schlimmste ist passiert. Mein Vater ist weg. Meine Wut, mein Wahnsinn werden sich jetzt erst recht manifestieren.»
Im Podcast «How to fail» erzählt Chimamanda Ngozi Adichie Elisabeth Day, wie wenig Zeit sie mehr hat für die Unglaublichkeiten, die sich Menschen ihr gegenüber leisten. Sie schlägt endlich zurück. Viel zu lange war sie – typisch weiblich – nett, angepasst und hat alle Menschen zu verstehen versucht. Doch seit auf Twitter Trans-Frauen Hetze gegen Adichie betreiben, angeleitet von einem enttäuschten Fan, spricht sie Klartext. Im Juni 2021 erzählte Chimamanda Ngozi Adichie, wie eine Schülerin von ihr, ein Fan, Lügen über sie verbreite. Sie hetze gegen Adichie mit der Absicht, der Feministin auf die übelste Art und Weise innerhalb der Frauen massiv zu schaden. Die Verleumderin wird in den sozialen Medien als Heldin gefeiert, sogar im Deutschlandfunk zitiert, obwohl deren Kampagne ein dreckiges Lügengeflecht ist. Wie meint doch Chimamanda Ngozi Adichie? «Anspielungen ohne Tatsachen sind unmoralisch.» Dieser Fan, diese Fanin, vom Deutschlandfunk als «Kritikerin» und «Aktivistin» geadelt, macht sich auf Twitter lustig über den Tod von Chimamanda Ngozi Adichies Eltern! Das Sterben von Vater und Mutter sei «die Strafe» für Adichies «Transphobia» – haben eigentlich Feuilleton wie Expertinnen solcher Themata noch alle Tassen im Schrank? Gleichzeitig will der Fan, dass auf dem Klappentext ihres ersten Buches steht, sie sei ein «Protegé» der preisgekrönten Autorin gewesen, worauf Chimamanda Ngozi Adichie meint: «You publicly call me a murderer AND still feel entitled to benefit from my name? You use my name without permission to sell your book AND then throw an ugly tantrum when someone makes a reference to it?»
Nicht nur der Fan ist, wie John Steinbeck schreiben würde, «an evil born with a pretty face», sondern auch die öffentlich-rechtlichen Medien wie der Deutschlandfunk, der solchen Figuren und deren Hate-Speech gegen prominente Feministinnen ständig Raum gibt. Welche monströsen Selbstbezogenheiten! «Notes on Grief» – oder wie die unmögliche deutsche Übersetzung meint: «Trauer ist das Glück, geliebt zu haben» verändert unser aller Leben. So wie Chimamanda Ngozi Adichie mit «Americanah» schon unser aller Leben inspiriert hat und mit vielen weiteren Romanen noch inspirieren wird. Lesen. Dringend.