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Über das Menschsein

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli* - Grosse Lit­er­atur wird erst mit den Jahren als solche erkan­nt. «Ich heisse Kathy H.» So begin­nt der erschüt­ternde Roman «Alles, was wir geben mussten» des let­zten Lit­er­atur-Nobel­preisträgers Kazuo Ishig­uro.

Wie kaum ein ander­er ver­mag der 1954 in Nagasa­ki geborene Brite den Men­schen als Men­schen und dessen In-die-Welt-gewor­fen-Sein in grosse Poe­sie zu fassen. In seinen Roma­nen geht es immer wieder um die Frage nach Iden­tität in Wel­ten, die so gar nicht zur Schaf­fung eines eige­nen Seins tau­gen. «Was vom Tage übrig blieb» (1989) wurde mit Antho­ny Hop­kins und der grossar­ti­gen Emma Thomp­son ver­filmt und erzählt in wun­der­bar stillen Bildern das Wer­den und Unterge­hen des britis­chen Empire. Der But­ler Stevens ist der per­fek­te Diener, die Inkar­na­tion eines Angepassten und Bürokrat­en. Als ober­ster Dien­s­therr ein­er Klas­sen­ge­sellschaft im noblen Palast Sein­er Lord­ship verbindet er sich vol­lkom­men mit der herrschen­den Ide­olo­gie. Selb­st als «sein» Lord Dar­ling­ton mit den Nation­al­sozial­is­ten kooperiert, vertei­digt er seinen Chef, wie er wieder und wieder Entschuldigun­gen für die erlit­te­nen Demü­ti­gun­gen wortre­ich dar­legt.

Die stille Akzep­tanz unmen­schlichen Ver­hal­tens durch men­schlich anrührende Fig­uren ist ein wiederkehren­des Motiv bei Kazuo Ishig­uro. Fehlgeleit­eter Ide­al­is­mus ist die Tragödie des Men­schen, doch nur Ishig­uro schafft es, dieses Unglück mit Mitleid zu verbinden. Erstaunlicher­weise entste­ht dadurch eine poli­tisch radikalere Erzäh­lung, als dies oft in der klas­sis­chen Politlit­er­atur möglich ist.

«Alles, was wir geben mussten» aus dem Jahr 2005 begin­nt mit Kathy H. in einem Eng­land des 20. Jahrhun­derts. Ishig­uro dringt ein in die Biotech­nolo­gie, inspiri­ert durch die Klon-Erfolge von Dol­ly, dem ersten Tier, das durch ein Klonierungsver­fahren gezeugt wurde. Im Roman erzählt Ishig­uro vom Leben dreier «Spender», Kathy, Ruth und Tom­my, deren einziger Leben­szweck darin beste­ht, lebende Organ­liefer­an­ten zu sein. Der Roman ist stark und zwingt seine Leserin­nen und Leser dazu, Fra­gen zu stellen, deren Antworten man eigentlich nicht vernehmen will. Die Stim­mung der bürokratis­chen Todes­mas­chine ist per­fekt erfasst in der stillen Akzep­tanz ihres «Schick­sals» der «Spender». Die drei Kinder, deren Leben wir ver­fol­gen, haben kein men­schlich­es, son­dern nur ein zweck­ge­bun­denes Dasein. In ein­er dur­chaus bizarren Schlussszene erfahren die «Spender», dass sie sich glück­lich schätzen kon­nten, als damals noch ethis­ches Exper­i­ment gezüchtet wor­den zu sein. Die Gen­er­a­tio­nen nach ihnen wur­den direkt als Leg­e­bat­te­rien konzip­iert. Das Klon-Inter­nat Hail­sham wird von ein­er Direk­torin geleit­et, die wieder und wieder ver­sucht, die Men­schlichkeit der «Spender» zu beweisen: ohne Erfolg. «Ishig­uros Kun­st» zwingt uns Lesende dazu, uns mit Mit­men­schen zu iden­ti­fizieren, die «wir nicht ken­nen kön­nen», wie es die FAZ beschreibt (19.10.2005).
Dass hier Ishig­uros «alte» Romane besprochen wer­den, ist Matthias Ack­eret zu ver­danken, dessen Ende Novem­ber erscheinen­des Buch «Die Glück­sucherin» sich mit den Ster­be­hil­fe­or­gan­i­sa­tio­nen wie Exit, Dig­ni­tas und anderen beschäftigt. Ack­erets Werk ist selt­sam konzip­iert, doch wird es beim Lesen sehr stim­mig. Der Autor pub­liziert die Lebens­geschichte ein­er lebens­fro­hen und erfol­gre­ichen Frau, Margrit Schäp­pi, die ihr eigenes Todes­da­tum wählt. Dass sie dies kann, ist Anlass für Matthias Ack­eret, die Lebens­geschichte von Schäp­pi zu erzählen, und von der Leichtigkeit, wie Men­schen heutzu­tage beschliessen kön­nen, aus der Welt zu schei­den (und sich let­ztlich so auch der Begeg­nung mit der Welt ver­weigern), zu bericht­en. Daraus ergibt sich eine span­nende und anre­gende Kom­bi­na­tion.

Margrit Schäp­pi beschreibt ihr Leben lakonisch und klar und erzählt bru­tal ein­fach, was es hiess und immer noch heisst, als Frau im deutschsprachi­gen Raum in der Mitte des 20. Jahrhun­derts geboren wor­den zu sein. Schäp­pis Leben ist zunächst eine Erfol­gs­geschichte, deshalb heisst es auch im Unter­ti­tel: «Warum Margrit Schäp­pi einen Leben­srat­ge­ber schrieb und trotz­dem Exit wählte».

Matthias Ack­eret, dessen Ver­bun­den­heit zum ver­stor­be­nen Pfar­rer Ernst Sieber ihn philosophisch stark geprägt hat, bringt sowohl seine Erschüt­terung über die Leichtigkeit des Ster­bens in der Schweiz als auch eine sehr klare Ein­schätzung der juris­tis­chen Lage zum Aus­druck. Ack­eret stellt fest, dass sich der frei­willig gewählte Tod von Margrit Schäp­pi nicht als Kri­tik an der begleit­eten Ster­be­hil­fe in der Schweiz eignet, denn dafür war ihr Wille, zu ster­ben, zu stark. Ack­eret stellt in der «Glück­sucherin» entschei­dende Fra­gen, die poet­isch auch bei Ishig­uro The­ma sind. Wie weit darf, soll und kann eine Gesellschaft gehen in der Indus­tri­al­isierung von Lebe­we­sen?

«Exit ist zu einem Brand gewor­den, zu ein­er Marke, wie Coca-Cola, Red Bull oder die Migros. Mit eige­nen Tes­ti­mo­ni­als. So mak­aber es klingt: Exit ist auch sexy. So wie man sich für freie Liebe, die freie Wirtschaft, den freien Per­so­n­en­verkehr oder das freie Inter­net ein­set­zt, so engagiert man sich für den Fre­itod.» (Ack­eret)

Die «Glückssucherin» ist unbe­quem, lakonisch und klar und stellt inmit­ten dieser tur­bu­len­ten Zeit­en wichtige The­men zur öffentlichen Debat­te. Matthias Ack­eret argu­men­tiert nicht religiös, son­dern als Men­sch. Dem Jour­nal­is­ten und Erfind­er von «Blocher TV» ist mit dieser Pub­lika­tion wohl «con­tre coeur» ein starkes, antikap­i­tal­is­tis­ches Plä­doy­er gelun­gen, was uns zu Ishig­uro zurück­führt: Meist ist es die abgrundtiefe Fremd­heit natür­lich­er und gesellschaftlich­er Vorgänge, die uns daran erin­nert, was es heisst, Men­sch zu sein.

Bücher­ti­tel:
Kazuo Ishig­uro: Was vom Tage übrig blieb (1989)
Kazuo Ishig­uro: Alles, was wir geben mussten (2005)

Margrit Schäppi/Matthias Ack­eret, Die Glückssucherin. Warum Margrit Schäp­pi einen Leben­srat­ge­ber schrieb und trotz­dem Exit wählte (2018)

 

*) Dr. phil./Dipl. Coach Reg­u­la Stämpfli ist Poli­tolo­gin und Best­seller-Autorin («Die Ver­mes­sung der Frau»).

Artikel online veröffentlicht: 30. Dezember 2018