… unter gleichzeitiger gegenseitiger Befruchtung – oder von Untoleranz seitens der Erwachsenen geprägtes Zusammenleben. Eine durchaus polemisch auftreten wollende Gegenüberstellung
Von Karl Schüpbach — Dankbar anerkenne ich, dass ich im Verlaufe der letzten Jahre ein mehr an Übersicht, Durchsicht, ja, an Lebensqualität gewonnen habe. Ich würde mir selbst untreu, wenn ich nicht einen Moment lang bei dieser erfreulichen Tatsache verweilen würde, bei der Frage nach dem «Warum?» Die Antwort fällt verblüffend einfach aus. Ich meine zu verstehen, dass meine regelmässige Arbeit im Kulturmagazin mich selber zur Wahrhaftigkeit zwingt, ich bin ein sehr gestrenger Selbstzensor geworden, ich kann es mir erlauben, nur dasjenige zu Papier zu bringen, woran ich selber bedingungslos glaube. Sehen Sie, liebe Leserinnen und Leser, vergegenwärtigen wir uns doch kurz, welch bodenloses Gestammel während des letzten Wahlkampfes ungeschützt auf uns losprasselte. Da wurde doch ohne zu erröten behauptet ein Fussball sei nicht rund, ausser dem Schreiberling hat es nur noch niemand gemerkt. Na ja, schreiben um des Schreibens willen. Was dabei echt ärgerlich ausfällt ist die Tatsache, dass mir in meinem Leben – nicht zu letzt wohl wegen meiner Unbeugsamkeit in wesentlich Fragen – jeglicher Erfolg verwehrt blieb, während stramm vorwärts marschierende, vornehmlich bürgerliche Partei-Bosse von Erfolg zu Erfolg eilen mit ihrem «Ausländer raus, mehr Eigenverantwortung, freier Markt, usw.» Wie man solchermassen blind gegenüber menschlicher Würde sein kann, wird für mich immer rätselhaft bleiben.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund dafür, dass ich mein Leben in letzter Zeit als déjà vu empfinde, oder anders ausgedrückt, als Abrundung. Sie werden sofort verstehen, dass ich mich dabei eng auf meinen oben gewählten Titel abstütze.
Jugend in Repression Ich stamme aus einem gehobenen Milieu, beide meine Eltern arbeiteten im Lehrerberuf, also doch wohl ein günstiger Nährboden für den Heranwachsenden. Darf ich das Verfahren abkürzen: mein Elternhaus war alles Andere als kindergerecht, dafür wurde der Prügelstock zu oft bemüht.
Noch ein paar Stichworte, dann schliesse ich dieses unerfreuliche Kapitel ab: keine sexuelle Aufklärung im Elternhaus, diese wurde an einen etwas älteren Knaben aus dem Nachbarhause delegiert. Ausspionieren meiner Freizeit; bis ins hohe Alter von 24 Jahren hatte ich mich jede Nacht im elterlichen Schlafzimmer zurückzumelden. Ganz schlimm: hinter meinem Rücken wurde versucht, mich von den Studien eines Berufsmusikers abzubringen, zu Gunsten der Musik-Wissenschaft. Davon habe ich Wind gekriegt, und ich war immerhin clever genug, diese Pläne ziemlich radikal zu durchkreuzen…
Partnerschaftliches Zusammenleben in der Grossfamilie Ich höre Sie fragen: wie ist es möglich, dass Sie über ihre Jugend so teilnahmslos, fast kalt berichten? Ich bin froh um diese Frage, sie leitet automatisch über in den zweiten, gewichtigeren Teil meines Artikels. Er wurde im Titel eingeleitet als partnerschaftliches sich gegenseitig Befruchten von älteren Generationen und Jugendlichen.
Ich bin in der Lage die Frage zu beantworten, ohne einen Blick im Zorn zurück werfen zu müssen. Ich bin nie dem eigentlich verlockenden Gedanken erlegen, «meine Kinder sollen es einmal besser haben». Als junger Familienvater wollte ich einfach verstehen, nichts als verstehen. Es war mir klar, dass es nicht an meinen Kindern lag, etwas zu verändern, sondern an mir. Die Mutter meiner Kinder, ihre Schwester und deren Mann, waren an denselben Fragen interessiert, obwohl ihre Voraussetzungen in ihrer Jugend von den meinen völlig verschieden waren. Wir inspirierten uns gegenseitig zur Lektüre von Büchern, welche Antworten auf unsere brennenden Fragen boten, was das Zusammenleben mit Kindern betraf. Noch heute läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich an unsere Entdeckungen denke, konkret daran, welche pädagogische Literatur in der Bibliothek meiner Eltern zur Verfügung stand. Namentlich der Psychoanalytikerin Alice Miller verdanken wir Einblick in den Begriff der «Schwarzen Pädagogik». Die Handvoll Bücher, die damals zur Verfügung standen, lassen sich, mit Nuancen, diesem Horror zuordnen: man breche vom ersten Tage an den Willen des Neugeborenen, sonst ist es für immer um unsere Ruhe geschehen. Stundenlanges Schreien lassen, Fesselungen, im eigenen Kot liegen lassen wurden allen Ernstes den neugebackenen Eltern empfohlen. Wie soll da Zorn gegen die Eltern aufkommen? Dann schon eher gegen Gleichaltrige, deren einschlägige Literatur genau so mannigfaltig wie meine sein kann. (Literaturverzeichnis siehe unten)
Die erwähnte Geistes-Haltung impliziert noch etwas anderes: das neugeborene Kind ist uns auf gedeih und verderben ausgeliefert, es ist restlos in unserem Besitz. Um wie viel menschlicher ist da die heute vorherrschende Meinung, mit der Zeugung des Kindes müsse gleichzeitig die Begleitung in ein selbstständiges Leben ihren Anfang nehmen, also die Einleitung eines Ablöse-Prozesses. So gesehen kann ein Kind wahrlich nicht als Besitztum betrachtet werden.
Schlussbetrachtung Kinder sehen in uns Erwachsenen, vereinfacht dargestellt, entweder wohlwollende Partner oder Despoten. Es kann also nicht wundern, wenn sie uns signalisieren wie sie die Welt der Erwachsenen sehen und erleben, als Bestätigung oder Bedrohung. Sehr oft ist dann die Provokation das einzige Mittel, um sich selbst zu behaupten.
Frau Irene Salgado und Frau Eva Pauline Bossow von der Verwaltung KonzertTheaterBern haben mich eingeladen, in der Deutschen Fachzeitschrift «Das Orchester» eine Reportage über ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Campus Muristalden, dem Berner Symphonieorchester und seinem Chefdirigenten Mario Venzago mit dem Titel «Kinderreporter» zu schreiben. Die Vorbereitungen dazu laufen auf Hochtouren, und ich verlasse den Ort des Geschehens mit den Kindern jedes Mal beglückt und rundum zufrieden. Der Artikel wird exklusiv für «Das Orchester» geschrieben, ich werde mich aber um die Abdruckrechte für ensuite bemühen. Wenn alles rund läuft, finden Sie die Reportage in der Februar-Ausgabe unseres Kulturmagazins.
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2011