• zurück

Umstadtläufer

Von Andy Licht­mach­er — Nr. 50 // Achte Etappe. An der Hal­testelle «Chäs und Brot» steigen wir aus dem Postau­to und ste­hen inmit­ten ein­er Märchen­land­schaft. Ein paar Lan­gläufer ziehen ihre Run­den: Dieses Jahr hat der Schnee in Ober­bot­ti­gen sog­ar für eine Loipe gere­icht. Die Sonne scheint uns direkt ins Gesicht und wir hören nichts weit­er als die Stim­men von Spaziergängern, die sich wie Farb­tupfer auf ein­er schneeweis­sen Lein­wand vergnü­gen. Auf dem Weg hin­auf zur Ried fra­gen wir uns, warum es Men­schen gibt, die einen solchen Son­ntag lieber an über­füll­ten Skiliften ver­brin­gen – denn das Gute, stellen wir auch auf dieser acht­en Etappe unser­er Stad­tumwan­derung fest, liegt so Nahe.

Gegen zwei Uhr starten wir auf der Ried mit dem offiziellen Teil der Route. Wir gehen ent­lang des südlichen Wal­drands und fol­gen der Stadt­gren­ze damit so exakt wie möglich. Nach weni­gen Minuten tre­f­fen wir bere­its auf die erste Grenz­markierung: Gemäss Gravur zeigt der Stein den Über­gang zwis­chen Bern und Köniz. Ich ent­ferne mit meinen dick­en Hand­schuhen die Schneekappe, um der Einker­bung den genauen Gren­zver­lauf ent­nehmen zu kön­nen.

Nach ein­er Woche Minustem­per­a­turen ist der Schnee hart und kom­pakt – Schneeschuhe sind glück­licher­weise nicht nötig. Die Kälte lässt sich auch an den Bäu­men able­sen: In der Nacht wur­den die Äste der Tan­nen schock­ge­froren. Ich springe gegen einen ziem­lich dick­en Baum­stamm, damit Raphi die her­ab­fal­l­en­den Kristalle auf blauem Hin­ter­grund fotografieren kann. Anschliessend tauchen wir für ein paar hun­dert Meter in den Wald ein; auf der anderen Seite erwartet uns gemäss Karte bere­its der Höhep­unkt dieser Etappe.
Und tat­säch­lich: Plöt­zlich öffnet sich der Blick ein­mal mehr über den West­en von Bern. Im nordöstlichen Hin­ter­grund liegen Riedern und die Radio­sta­tion, die wir auf der sech­sten Etappe passiert haben; davor sind West­side und die Hochhäuser des Gäbel­bachs zu erken­nen. Wir steigen etwas weit­er den Hügel hin­auf und wer­den mit Eiger, Mönch und Jungfrau belohnt. Mit Hil­fe der Stadtkarte ver­fol­gen wir die Gren­ze im Gelände: Sie führt über Felder, durch­quert die Gewer­be­zone, durch­schnei­det Auto­bahn und Zuglin­ie und schmiegt sich anschliessend an den Könizberg­wald.

Auf den Feldern des Bot­ti­gen­moos, in Sichtweite der Schre­bergärten, fall­en uns über­durch­schnit­tlich viele Gren­zsteine auf. Wir rät­seln, ob es in dieser Gegend früher beson­ders viele Stre­it­igkeit­en zwis­chen Bern und Köniz gegeben hat. Jäger und Gejagtem scheint dies auf jeden Fall egal gewe­sen zu sein: Schädel, Knochen­teile und Fell sind gle­ich­mäs­sig auf bei­den Ter­ri­to­rien verteilt. Die Spuren im nieder­ge­tram­pel­ten Schnee zeu­gen allerd­ings von einem ungle­ichen Kampf.

Am kün­stlichen Wei­her zwis­chen Bauhaus, Neubaut­en und Porsche-Garage ein paar hun­dert Meter weit­er füt­tern alte Men­schen lahme Enten. Ein nicht beson­ders behaglich­er Ort, sind wir uns einig, denn nichts passt hier zusam­men. Während die stink­ende Kanal­i­sa­tion Reizhus­ten aus­löst, pla­nen wir eine Auswe­ichroute, weil hier alles so zuge­baut, umzäunt und von Auto­bahn und Zuglin­ie durch­schnit­ten ist, dass wir dem Gren­zver­lauf unmöglich fol­gen kön­nen.

Das Quarti­er Hohliebi stimmt uns wieder etwas ver­söhn­lich­er. Zwis­chen den Blöck­en wer­den mehrere Büsis ver­misst, was wenig erstaunt, wenn man eine Weile dem Homo Mobil­i­ty zuschaut, der mit offen­sichtlich schlecht­en Reifen über die Eispiste schlit­tert. Wenig­stens dominieren hier wieder der Haus und Hof und nicht Asphalt und Stahlza­un.
Wir gön­nen uns ein kurzes Pick­nick am Rand des Könizberg­waldes und fol­gen anschliessend der Forststrasse Rich­tung Osten. Nach der Tauben­tränke führt der Weg steil hin­auf zum Stern, vor­bei an einem über­grossen, von Moos überwach­se­nen und etwas schiefen Gren­zstein. Plöt­zlich wer­den wir mit­ten im Wald von einem Lan­gläufer über­holt.

Für einen kurzen Moment färbt die unterge­hende Sonne die Schnee­land­schaft orange, dann set­zt bere­its die Däm­merung ein. Beim Ein­tr­e­f­fen am End­punkt der heuti­gen Etappe – das tilia Pflegezen­trum Köniz – hat sich bere­its eine dicke Nebeldecke über die Region gelegt; das Wass­er in unseren Trink­flaschen ist gefroren.
Jet­zt freuen wir uns auf den war­men Bus. Und auf die let­zten Kilo­me­ter unseres Aben­teuers.

Mehr Fotos der Expe­di­tion unter:
www.tink.ch/bernaround

Foto: Raphael Hün­er­fauth
ensuite, Feb­ru­ar 2009

Artikel online veröffentlicht: 3. August 2018