Von Andy Limacher — Nr. 49 // Siebte Etappe. Wir hätten uns für heute eigentlich Schnee gewünscht, aber jetzt, wo wir in Riedbach aus der S4 aussteigen, scheint die Sonne, als ob es Frühling wäre. Wir folgen der Bottigenstrasse zum Gäbelbach runter und starten dort mit der bisher längsten Etappe unserer Stadtumwanderung. Sie führt uns in den wilden Westen von Bern – keine andere Gegend ist so weit von Baldachin, Bundeshaus und Bärengraben entfernt.
Wenig später passieren wir das Restaurant Mühle Riedbach, verlassen den offiziellen Wanderweg und folgen dem Gäbelbach über Feld und Wiesen. Unsere Schuhe versinken im Morast. Im Frühling wäre es wohl genauso – allerdings verraten der tiefe Sonnenstand und die fehlenden Blumen den Winter. Zwischen Spilwald und dem Chlyne Forst, unterhalb der Eggersmatt, verweilen wir für einen Moment in einer Märchenlandschaft aus knorrigen Bäumen und verwunschenem Bach. Einen Kilometer weiter stossen wir auf den Neuhäusliweg, der das Drei-Gemeinden-Eck zwischen Bern, Frauenkappelen und Mühleberg markiert.
Wir haben uns zu Beginn unserer Expedition in den Kopf gesetzt, der Stadtgrenze möglichst exakt zu folgen, haben aber hie und da davon abgesehen, um Bauern nicht in ihre Felder und Privaten nicht in die Blumenbeete zu treten. In den Wäldern sind wir bisher auf keine grösseren Hindernisse gestossen, aber der Chlyne Forst hat es in sich: Wir pirschen gebückt durch fast undurchdringliche Dornenbüsche und stehen plötzlich vor einer Schlucht, an deren Boden die Trasse der S4 verläuft. Wir rutschen den steilen Abhang runter, bleiben ein paar Minuten stehen, spitzen unsere Ohren in beide Richtungen, und dann – Raphi mahnt mich dazu, unseren Lesern mitzuteilen, dass es hundert Meter weiter östlich eine Unterführung gegeben hätte.
Oberhalb von Mädersforst, einem Ortsteil von Mühleberg, legen wir eine Picknickpause ein. Vermutlich war dieser Wald früher des Mäders Forst, und tatsächlich listet weisseseiten.ch unter dem Stichwort Mädersforst gleich fünf Einträge unter dem Namen Mäder auf: Drei Landwirte, eine Sägerei und ein Bed&Breakfast. Auch die Forellensömmerlingszuchtanlage ein paar hundert Meter weiter trägt als Inhaber die Gebrüder Mäder. Sie markiert den «Point Of No Return» unserer heutigen Reise: Entweder nehmen wir ganz in der Nähe ab Rosshäusern die S‑Bahn zurück nach Bern, oder wir wandern noch einmal sechs Kilometer bis Oberbottigen. Wir entscheiden uns trotz vorgerückter Stunde für letzteres.
Wenig später erreichen wir einen weiteren Wendepunkt unserer Expedition: Zwar haben wir die Hälfte unserer Reise – gemessen an den Kilometern – schon längst hinter uns, aber das Drei-Gemeinden-Eck zwischen Mühleberg, Neuenegg und Bern ist der westlichste Punkt von Bern. Die letzten zwanzig Kilometer seit Bremgarten haben uns geographisch immer weiter vom Stadtzentrum weggeführt – von jetzt an bewegen wir uns wieder darauf zu. Damit ist der Zenit unserer Reise auch gefühlsmässig überschritten.
Wir hatten uns diesen Ort spektakulärer vorgestellt: Auf der kleinen Lichtung finden wir ausser zwei alten Gartenstühlen nichts weiter als einen verwitterten Stein, der sich nicht mit Sicherheit als Grenzstein identifizieren lässt. Auf die wenigen Meter würde es allerdings nicht mehr ankommen: Die Karte verrät uns, dass es von hier aus rund elf Kilometer Luftlinie bis zum Hauptbahnhof sind. Erst jetzt realisieren wir, welche Dimension der wilde Westen hat.
Jetzt muss es schnell gehen. Wir möchten uns nicht von der Dunkelheit überraschen lassen und die Sonne steht schon tief am Horizont. Wir folgen der Matzenriedstrasse im Abendlicht Richtung Osten, tauchen beim Fussacker wieder in den Wald ein und versuchen, der Karte den genauen Verlauf der Stadtgrenze zu entnehmen – es gibt keine Landmarken, die auf sie hinweisen. Deshalb wissen wir nicht, ob wir den südlichsten Punkt unserer Expedition je betreten haben.
Die Waldhütte Bruchere hilft uns wieder auf die Sprünge: Wir sind der Stadtgrenze, ohne es zu wissen, ziemlich exakt gefolgt. «Wir funktionieren besser als jedes GPS», sagt Raphi. Durch einen Waldabschnitt mit dicht beieinanderstehenden Tannen – so dunkel wie die Nacht – gelangen wir auf die Ried, eine Lichtung zwischen Matzenried- und Inselwald. Sie ist der Endpunkt dieser siebten Etappe. Wir sind froh, als wir unter uns die Lichter von Oberbottigen erblicken: Jetzt, wo wir den wilden Westen besiegt haben, sind wir unserem Ziel ein grosses Stück näher.
Mehr Fotos der Expedition unter:
www.tink.ch
Foto: Rafael Hünerfauth
ensuite, Januar 2009