Von Pedro Moser — Interview mit Joachim Rittmeyer: Joachim Rittmeyer ist der Doyen des literarischen Kabaretts in der Schweiz. Der 58-jährige Ostschweizer lebt schon seit langem in Basel. Auf der Bühne hat er eine Reihe von Figuren entwickelt, darunter seine Klassiker Theo Metzler und Hanspeter Brauchle. Im aktuellen Programm «verlustig» kommt ausgerechnet dieser Brauchle abhanden. Und steht dennoch ganz im Mittelpunkt.
ensuite — kulturmagazin: Was erwartet das Publikum im Programm «verlustig»?
Joachim Rittmeyer: Eine eigene Welt. Komisch in jeder Hinsicht. Ich hoffe, der Abend regt an und macht Lust auf die Welt, in der wir uns meistens befinden, nämlich auf die Alltagswelt und die Mentalität unserer Breitengrade. Man soll sich auch ein bisschen wundern über sich selbst und unsere Gesellschaft.
Wer spielt mit?
Ganz viele. Es geht aus von einer Figur, die dann in ganz viele Identitäten schlüpft. Das ist eine Figur, die sehr nahe bei mir ist. Sie steht durch einen blöden Zufall auf der Bühne und pröbelt mit dem Ton herum, während die Zuschauer schon im Saal sitzen. Ein typisch Rittmeyerscher Anfang. Er erlebt unverhofft eine Sternstunde, weil er in etwas hineingeraten ist, das er nie erwartet hätte – und so geht es ja vielleicht auch dem Publikum. Wenn einem der Boden entzogen wird, empfindet man das als Verlust. Aber wenn man auf einen neuen Boden fällt, kann das durchaus auch lustvoll sein. In diesem Stück geht eine Figur verlustig, der Brauchle verschwindet. Trotz seiner physischen Absenz ist er aber immer noch lustig, sein Geist ist immer noch präsent.
Sie haben über Jahre die zwei Figuren Hans-peter Brauchle und Theo Metzler aufgebaut. In den letzten paar Jahren kamen mit Jovan, Lanzi und dem Appenzeller Schiess noch mehr Personal dazu. Jetzt verabschieden Sie sich mit einem Kunstgriff von Brauchle. Ist Ihnen die Figur verleidet?
Nein. Ausschlaggebend für diesen Entscheid war, dass die Leute bei jedem neuen Programm gefragt haben: «Gell, der Brauchle ist wieder dabei?» Das machte mich je länger je unfreier. Ich musste quasi immer wieder eine Marke reproduzieren. Ich fragte mich dann, ob und in welcher Form der Brauchle denn dabei sein müsse. Ob es nicht auch ohne ihn ginge und ob das Publikum dann auch noch dabei wäre, und ob er nicht noch mehr dabei sein würde, wenn er nicht dabei wäre… Es ist, wie wenn ein geladener Gast nicht erscheint. Dann redet man auch die ganze Zeit über ihn und fragt sich, wo er wohl steckt und was wohl passiert ist.
Wie viel Joachim Rittmeyer steckt in Ihren Figuren? Sind Sie die ganze Palette und die einzelnen Figuren die verschiedenen Farben?
Ja, ich denke schon. Mit ein bisschen Pech oder Glück hätte ich alle diese Figuren werden können. Ich überschreite die Grenzen des Realen und suche Figuren, die ich vielleicht ab und zu auch noch gerne wäre, oder eben ganz und gar nicht. In jedem Menschen schlummern ganz viele Identitäten, eine davon oder eine Art Zusammenfassung von allen lebt man dann wirklich aus. Das Kabarett ist eine Möglichkeit, diese Identitäten wieder aufzufächern.
Sie haben also das Privileg, diverse Lebensentwürfe auf der Bühne auszuprobieren?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich hatte schon früh das Gefühl, das Leben sei einfach zu eng. Familienleben, die Kleinstadt St. Gallen… diese enge Bandbreite war mir unangenehm. Dann entdeckte ich auf der Bühne neuen Raum für andere Lebensmodelle, ohne natürlich die Realität und den Alltag aus den Augen zu verlieren.
Ihre Figuren decken eine grosse Bandbreite an Charakteren ab, vom introvertierten Brauchle bis zum Grossmaul Lanzi. Was fehlt, ist eine Frauenfigur. Wie bringen Sie die weibliche Seite in Ihr Programm?
Weibliche Figuren kommen vor, wenn auch nur sehr kurz. Aber sobald man mit Verkleidungen arbeiten muss, hat es etwas Transvestitenhaftes. Ich versuche eher, die weiblichen Seiten bei den Männerfiguren auszuarbeiten. Brauchle ist zum Beispiel ein sehr weiblicher Mann. Er hat ein weiches, empathisches Gemüt.
Ihren Figuren widerfahren im Alltag die skurrilsten Dinge oder sie bauen sich aus alltäglichen Dingen die abstrusesten Gedankengebäude. Passiert es Ihnen auch, dass der Alltag plötzlich zum Abenteuer wird?
Das passiert mir oft. Gerade letztens ist mir wieder aufgefallen, wie viele Schlüssel die Leute aufbewahren, weil man sie ja vielleicht irgendwann doch noch braucht. So hat man dann derart viele Schlüssel, dass man völlig die Übersicht verliert und nicht mehr weiss, welcher wo passt. So entstehen richtige Labyrinth-Situationen, die man dann einfach weiterspinnen kann und schon bin ich mittendrin in einer neuen Nummer…
Aber Sie suchen natürlich auch solche Situationen und denken sich Konstellationen aus, in denen Menschen in eine Art Labyrinth geraten und den Boden unter den Füssen verlieren…
Ja, klar. So bekommt das Leben ja auch eine besondere Dimension. Den Alltag kennen wir ja alle. Wenn sich Abgründe oder neue Dimensionen auftun, finde ich das unglaublich bereichernd.
Wie sehr sind Sie auf der Bühne auf das Publikum und dessen Interaktion angewiesen?
Sehr. Es ist wie Salat essen ohne Sauce. Zu viel Sauce ist allerdings auch nicht gut… Aber man macht das alles ja fürs Publikum. Man will etwas anstossen, eine Erfahrung teilen. Ich kann einfach den Funken zünden, den Anlass geben und hoffen, dass wir beide – das Publikum und ich – auf eine gemeinsame Fahrbahn kommen. Das ist das, was man als schön und befriedigend empfindet.
Sie spielen «verlustig» nun knapp ein Jahr. Wie viel Raum gibt es noch für Improvisation, für das Spiel mit dem Moment?
Es gibt einige Übergänge, die für mich wie Kreuzungen sind und bei denen ich mich jeweils für den einen oder anderen Weg entscheide. Die führen natürlich beide an denselben Ort, aber an diesen Kreuzwegen ist Platz für Improvisation. Auch der Rhythmus des Stücks ist von Abend zu Abend verschieden. Manchmal sagen die Figuren auch spontan etwas anderes, ohne es mit mir abgesprochen zu haben…
Im Gegensatz zur heutigen Fastfood-Comedy, in der einem alle 20 bis 30 Sekunden eine Pointe vorgesetzt wird, sind Sie ein Slowfood-Komiker, der sich Zeit lässt, seine Stücke zu entwickeln. Sie spannen Ihr Publikum zum Teil auf die Folter, halten Längen bewusst sehr lange aus. Ist Ihr Programm etwas für ein erlesenes, kleines Publikum oder allgemein bekömmlich?
Offenbar ist ein Markt da für solches Theater, mein Angebot stösst auf Nachfrage. Aber es ist schon richtig, es ist eine Art Gegenströmung zu «Immer dichter, immer schneller». Wobei ich sagen muss, dass es sich in meinen Stücken oft um eine scheinbare Langsamkeit handelt, denn auch während den Pausen passieren ja ganz viele Dinge, wenn auch ohne Worte.
Sie haben vor zwei Jahren mit dem Schweizer Kleinkunstpreis eine wichtige Auszeichnung erhalten, was Sie dazu bewog, ein Best-of-Programm zu machen. Welche Ihrer Berufskolleginnen und ‑kollegen hätten Ihrer Meinung nach auch einen Preis verdient?
Grundsätzlich all jene, die etwas Neues wagen, einen persönlichen Stil entwickeln und nicht nur unter der Gürtellinie operieren. Pointen, die in irgendeiner Weise mit Hemmungen zu tun haben, lösen reflexartig Lacher aus. Das ist ein sehr einfacher Mechanismus. Ich schätze zum Beispiel Manuel Stahlberger oder das Duo schön&gut. Aber die wurden ja schon mit Preisen bedacht.
Sie haben Ihr Stück und die Figuren selber entwickelt, haben aber mit dem Berner Stephan Gerber einen Regisseur mit ins Boot geholt. Was hat Sie als Solokünstler dazu bewegt?
Stephan Gerber ist in erster Linie ein kompetenter Begleiter. Mir war es wichtig, dass er meine Sachen schätzt, sie aber auch mit einer gesunden Distanz kritisch begutachtet. Er ist mein Angelpunkt ausserhalb meiner eigenen Welt, eine Art Supervisor.
«verlustig» ist ihr 18. Soloprogramm. Haben Sie einen Liebling?
Am liebsten sind einem immer jene Programme, mit denen man einen Durchbruch oder eine Abkehr vom Alten geschafft hat. In «Abendfrieden Spezial» hab ich zum Beispiel die Figuren Brauchle und Metzler zum ersten Mal gebracht. «Lauter Knistern» war der erste Experimentierabend. Das sind so ganz frühe Meilensteine. Ein paar Programme habe ich auch noch in Deutschland gespielt. Mit «Abendfrieden Spezial» habe ich mich dann vom Hochdeutschen abgewendet, weil ich gemerkt habe, dass ich bei diesen Figuren bleiben muss und bei der Sprache von Leuten, die ich kenne, aus diesem Land, mit seinen ganz speziellen Eigenheiten.
Geistert schon ein neues Programm in Ihrem Kopf herum?
Ja, es gibt Ideen. Aber es ist wie beim Rhein. Der hat seinen Namen auch erst, wenn er im Unterland ist. Vorher besteht er aus vielen kleinen namenlosen Zuflüssen…
Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein neues Programm entwickeln? Wie sieht Ihre Arbeitsweise aus?
Zuerst brauche ich den Kern des Programms, das ist so etwas wie ein Fötus, mit Herz und Augen – erste Umrisse und Grundformen. Dann sammle ich Ideen auf Zetteln, mit Kritzeleien, das ist alles sehr lose zusammengeschraubt. Wie eine Wolke, die langsam näher kommt und immer schärfer wird. Und dann kommt natürlich das knochenharte Niederschreiben, Streichen, neu Schreiben und so weiter. Da bin ich dann ziemlich diszipliniert bei der Arbeit, meistens tagsüber.
Gehören Sie zu den Künstlern, die einen Premierentermin brauchen, um ein Stück fertig zu schreiben?
Ja, durchaus. Auch wenn man nach der Premiere noch weiter am Stück arbeiten und es optimieren kann, ist es gut, einmal etwas zu präsentieren, das man dann auch beurteilen kann.
Kabarett ist ja ursprünglich eine politisch motivierte Kunstform, eine Auflehnung gegen die Herrschenden, gegen unbefriedigende Zustände. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen macht in der Schweiz seit Jahrzehnten praktisch niemand mehr politisches Kabarett. Auch Sie waren früher sehr viel politischer – warum machen Sie heute kein politisches Kabarett mehr?
Am politischen Kabarett haben mich mehr die Mechanismen als die Figuren interessiert. Ich bin überzeugt, dass wir alle mit jedem Griff, den wir machen, eben auch Politik machen. Ich habe deshalb auch immer mit dem Publikum gearbeitet, eben mit jenen «politischen Menschen», die direkt im Raum sassen. Es hat mich immer gestört, wenn im politischen Kabarett Abwesende vorgeführt wurden. Schliesslich wurde mir dieses Genre zu eng und das Existenzielle, das Grundsätzliche am Leben begann mich zunehmend mehr zu interessieren. Ich brauchte eine Öffnung.
Joachim Rittmeyer: Verlustig — Solokabarett
La Cappella, Bern, 21. Oktober bis 7. November 2009
Info: www.la-cappella.ch
Foto: Christoph Hoigné
ensuite, Oktober 2009