Von Barbara Roelli — Ich war in der Provence in den Ferien. Einem Gebiet im Süden Frankreichs, wo man kulinarisch voll und ganz auf seine Kosten kommt, wenn man sich auch nur annährend für die leiblichen Freuden des Lebens interessiert. Die Provence erinnert mich an das Gemälde von Peter Bruegel dem Älteren: Eine ganze Sau spaziert bereits gebraten durch die Landschaft, in ihrem Rücken steckt ein Messer, mit dem man sich eine Tranche ihres saftigen Fleisches abschneiden kann. Ein perfekt gekochtes Ei mit Beinen watschelt über die Wiese, seine Schale ist aufgebrochen, der Löffel für den Verzehr steckt schon darin. In den Flussbetten durch die Landschaft fliessen Milch und Honig, die Häuser sind aus Backwerk gefertigt. Und die einzige Lebensform, welche die Bewohner des Schlaraffenlandes kennen, ist die des Geniessens. Und in der Provence machte ich genau das.
Der Tag begann mit einem Croissant au Beurre und endete bei der Käseplatte mit reifem Schaf- und Ziegenkäse, gewürzt mit wildem Thymian. Dazwischen verstrich die Zeit im Beisein von Oliven, einigen Gläsern des Anisschnapses Pastis, Wildschweinwurst und zuckersüssen Melonen. Ich kostete regionale Gerichte, die durchaus ihre Eigenart haben. Wie etwa die «pieds et paquets». Diese Spezialität besteht aus den «pieds» – Schafsfüssen –, und den «paquets» – kleinen Paketen aus Schafsmagen, die unter anderem mit Petersilie und Knoblauch gefüllt werden. Das Ganze wird lange in einer Sauce aus Tomaten und Weisswein geköchelt. Eingeweiden gegenüber bin ich offen, und sowieso erscheint mir die Verwertung des ganzen Tieres – wenn man es denn schon mal schlachtet – als sinnvoll. Mit dieser Einstellung, so dachte ich, kann mich nichts ekeln. Und es war dann auch nichts Tierisches, das mich eines Abends erschaudern liess, als ich in einem Restaurant die Beilage entdeckte, die ich zu meinem Menu serviert bekam: Eine halbierte Tomate, die – mit geschmacksneutralem Paniermehl, dominantem Knoblauch und etwas schlappen Kräutern belegt – im Ofen gegart wird. «Tomate à la provençale». Sie hockte in der unteren linken Ecke des rechteckigen Tellers und grinste hämisch zu mir hoch, als wüsste sie, dass ich sie schon damals in der Kochschule verabscheut hatte, als wir sie brav nach dem Rezept des «Tiptopf» nachzukochen hatten. Schon damals fand ich gedämpfte Tomaten unnötig. Für mich haben Tomaten in diesem Zustand kaum Geschmack, sind einfach nur wässrig. Wie oft habe ich mir an der heissen Flüssigkeit schon die Zunge verbrannt.
Ich sass nun also mit einer alten Bekannten zu Tisch, die ich nicht mochte und von der ich bisher immer geglaubt hatte, sie hiesse nur «Tomate à la provençale», weil irgendwelche kreativen Köche es sich zur Aufgabe gemacht hätten, etwas mediterranes Flair in die bodenständige Schweizer Küche zu zaubern. Und dann, mitten in der Provence, wo der Lavendel die Sinne benebelt und sich Wildschwein und Steinkauz gute Nacht sagen – stellte ich fest, dass die Beilagen-Tomate in ihrer verschrumpelter Form doch aus dem Süden Frankreichs stammt. Nach Wikipedia werden für die «Tomates à la provençale» Tomaten halbiert. Ihre Schnittflächen werden mit Paniermehl, Petersilie, Knoblauch und Olivenöl bedeckt. Anschliessend werden die Tomaten im Ofen gegart oder in der Pfanne gedämpft. Die Idee dafür hatte P.C. Robert. In seinem Werk «La Grande Cuisine simplifiée. Art de la Cuisine nouvelle mise à la portée de toutes les fortunes» ist die Zubereitung der «Tomates à la provençale» sorgfältig niedergeschrieben. Publiziert wurde das Werk 1845 in Paris. Und so kam es in meinen Ferien zu einem ungewollten Déjà-vu.
Foto: Barbara Roelli
ensuite, September 2011