Von Fabienne Naegeli - Der sonnig heisse Festivalsommer ist Vergangenheit. Wir blicken zurück auf zwei Highlights: «Uni*Form» von Aughterlony und León am Zürcher Theater Spektakel, und «En avant, marche!» am La Bâtie, eine Kreation von Platel und Van Laecke, die in einem Schmuckstück unter den Westschweizer Bühnen gezeigt wurde.
Die neuseeländische Tänzerin und Choreographin Simone Aughterlony und der belgische Filmemacher Jorge León brachten am Zürcher Theater Spektakel ihr neustes Projekt «Uni*- Form» zur Uraufführung, das sich mit dem Thema Staatsgewalt auseinandersetzt. Uniformen symbolisieren die Funktion ihres Trägers, dessen Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Durch das Tragen soll die Aufgabe verkörpert und die Zusammengehörigkeit gefestigt werden. Aughterlony und León fügen dem Begriff allerdings ein Asterisk hinzu. Innerhalb der Gleichförmigkeit verbirgt sich bei ihnen eine Vielfalt, die sich simplem binären Denken widersetzt und gesellschaftliche Normen reflektiert.
Die auf einem blau-schwarzen Matratzenhaufen herumtollenden, Räuber und Gendarm spielenden Kinder sind gegangen, als sieben Erwachsene in Polizeiuniformen auftreten. Funkgeräusche sind zu hören, der Musiker hat sich Kaffee aus einer Thermoskanne eingegossen und bespielt die Bürotischlampe mit einem Geigenbogen. Zur verfremdeten Geräuschkulisse einer Polizeidienststelle mustern die Performer mit durchdringenden, misstrauischen Blicken das Publikum. Sie gehen in der Zuschauerarena umher, werfen sich gegenseitig Blicke zu, beobachten uns. Was ist ihr Auftrag? Sind sie Freund und Helfer oder verdächtigen sie jemanden? Beschützen oder kontrollieren sie die Zuschauer? Agieren sie als Gruppe oder gibt es Abweichler in ihren Reihen? Die Gesellschaft räumt der Polizei Macht ein. Widerspruch soll sie ersticken und sich dem, was aus dem Rahmen fällt, entgegenstellen. Doch bei Simone Aughterlony und ihrem Polizeitrupp- Ensemble kippt ein «Hände hinter den Kopf»-Befehl in eine Geste der Entspannung und Kopfstandversuche, sich raufen und schlagen werden zu Kussszenen und Ausdruck körperlich-sexuellen Begehrens, Federballschläger trägt man wie Schlagstöcke mit sich, eine Verfolgung mutiert zum Baseballspiel, und ein leblos daliegender Performer, dem man zuvor die Uniform ausgezogen hat, wird mit Trillerpfeife umtanzt. Nackt, nur scheinbar von einem (de facto durchsichtigen) Schutzschild bedeckt, reiht sich der Nicht-mehr-Uniformierte wie in «Des Kaisers neue Kleider» mit polizeilicher Haltung in das Corps. Lustvoll-verspielt, witzig und spannungsreich werden in «Uni*Form» Dominanz und Unterwerfung, Gewalt und Begehren, die Ambivalenz der uniformierten Macht ausgelotet und die Verletzlichkeit des Körpers erfahrbar gemacht.
Der Uniform kommt auch in der neusten Arbeit des belgischen Choreographen Alain Platel und des Regisseurs Frank Van Laecke eine entscheidende Rolle zu. Sie ist Ausdruck eines schützenden Gemeinschaftsgefühls in «En avant, marche!», einem Brass-Band-Tanzstück, bei dem der Musikverein La Concordia Fribourg Darsteller und Thema zugleich war. Aufgeführt wurde die Produktion in Mézières im Théâtre du Jorat, einem scheunenartigen, beinahe hundertjährigen Theaterbau in der idyllischen Waadtländer Landschaft nahe Lausanne. Seine Holzarchitektur verleiht ihm einen einzigartigen Charme und lohnt einen Ausflug. Auf den mit roten Polstern ausgestatteten Bänken, die rund 1000 Zuschauern Platz bieten, könnte sich fast die gesamte Dorfbevölkerung Mézières die Inszenierung ansehen. Für ein Stück, das die grossen Sehnsüchte, Wünsche und Träume der Menschen, ihre Geschichten und Anekdoten in der kleinen Welt der Musikgesellschaft zu fassen sucht, kann man sich wohl keinen passenderen Spielort vorstellen. Seit Jahrhunderten tragen Blasorchester zum sozialen und kulturellen Leben auf dem Land und in der Stadt bei. In diesen Vereinen sind alle sozialen Schichten vertreten. Sie bilden die Gesellschaft en miniature ab. Nicht selten musiziert der Grossvater mit seiner Enkelin zusammen, und Ehepaare finden ein gemeinsames Betätigungsfeld. Inspiriert von dieser musikalischen Tradition des Kollektivs aus unterschiedlichsten Individuen, die alle in ein und dieselbe Richtung marschieren, bringen Platel und Van Laecke Musik- und Tanzprofis aus Belgien mit einer lokalen Blaskapelle zusammen.
Vor einem rostroten, hausähnlichen Bühnenbild stehen Klappstühle. Ein alter Mann mit CD-Gerät hinkt unter grosser Anstrengung auf die Bühne, setzt sich hustend und lässt das Vorspiel zu Wagners «Lohengrin» erklingen. In seinen Händen die Becken, wartet er lange auf seinen Einsatz, spult schliesslich vor, lässt das Instrument zum Serviertablett werden und hüpft engelsgleich mit ihm umher. «Der Tod ist vorbeigekommen» heisst es im Einakter «Der Mann mit der Blume im Mund» vom italienischen Dramatiker Luigi Pirandello. Unser Beckenspieler ist an Kehlkopfkrebs erkrankt. Das verunmöglicht seine Leidenschaft, das Posaunenspiel, und macht ihn einsam. Der vom Tod Gezeichnete klammert sich an das Leben, treibt seine Geliebte von sich, nimmt Abschied von seinem Instrument und versucht in die Musikgemeinschaft zurückzukehren, umworben von einer neuen, lockenden Liebe. Er singt gurgelnd, speit Wasser, wovon eine der Majorette- Tänzerinnen im goldenen Glitzerkostüm einige Tröpfchen zu erhaschen versucht, gibt Aphorismen, Redensarten und ein flämisches Gedicht von sich. Am Ende tanzt er mit seinem Nachfolger, einem jungen, agilen Posaunisten, der den gewichtigen Alten hochhebt und trägt, ein Pas de deux. «En avant, marche!» steht für den Wunsch von der Gemeinschaft wahrgenommen, getragen und in seiner Rolle anerkannt zu werden. Parabelhaft wird der Beckenspieler von seinem Musikverein am Leben gehalten.
Simone Aughterlony & Jorge León: «Uni*Form»
25. und 26. Januar 2016, Kaserne Basel www.kaserne-basel.ch
Alain Platel & Frank Van Laecke: «En avant, marche!»
8. und 9. Januar 2016, Theater Chur www.theaterchur.ch Théâtre du Jorat www.theatredujorat.ch