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Verbindet musik oder führt sie zum Krieg?

Von Thomas Kurkhal­ter — Das erste Nori­ent-Musik­film­fes­ti­val fokussierte eher noch auf ein­er pop­ulären Schiene — wenn man dem so sagen darf. Ein Schachzug, der sich für die Ein­führung eines mul­ti­kul­turellen Fes­ti­vals sich­er pos­i­tiv auswirk­te. Mit der zweit­en Aus­gabe kom­men wir bere­its in poli­tis­chere Gefilde – was nicht min­der inter­es­sant ist. Im Gegen­teil: Das ist wahrer Rock’n’Roll. Thomas Burkhal­ter, Mitini­tia­tor vom Fes­ti­val, hat im Mega­fon (Hauszeitung der Reitschule Bern), eine gute Ein­führung geschrieben. Im Jahr 2011 erfind­en auch wir vom ensuite das Rad nicht zum zweit­en Mal – und druck­en hier seinen Text wieder­holt ab:

Das 2. NORIENT Musik­film Fes­ti­val schaut mit sieben Doku­men­tarfil­men (drei Schweiz­er Pre­mieren!) aus Südafri­ka, Bul­gar­ien, der Türkei, Japan, Deutsch­land, den USA und Pak­istan genau hin: auf die Ver(w)irrungen zwis­chen Musik, Gesellschaft und Poli­tik. Eine Frage ste­ht im Raum: Verbindet Musik Men­schen – oder treibt sie die Men­schen auseinan­der? Oder kann Musik gar zu Kon­flik­ten und Kriegen führen?

Die erste Aus­gabe des nori­ent Musik­film Fes­ti­vals fokussierte auf neue musikalis­che Strö­mungen aus dem Umfeld der elek­tro­n­is­chen Musik und der Club-Kul­tur: Auf den «Glob­al Ghet­totech» — oder die «Welt­musik 2.0», die Welt­musik der inter­ak­tiv­en Medi­en­plat­tfor­men. In diesem Jahr ste­hen Punkmusik, Heavy Met­al, japanis­che Noise-Musik, ein Wet­tbe­werb türkisch­er Muezzine und südos­teu­ropäis­che Arabeskmusik und Schlager­melo­di­en im Fokus.

Ver­schiedene Fak­toren entsch­ieden mit, welche Filme wir für das Nori­ent Musik­film-Fes­ti­val auswählten. Erstes Kri­teri­um war selb­stver­ständlich die Qual­ität der Filme, definiert über die ästhetis­che Umset­zung, die Nähe zu den Pro­tag­o­nis­ten, die Tiefe der Auseinan­der­set­zung mit dem Gegen­stand. Jed­er Film gewichtet diese Kri­te­rien anders und set­zt sie anders um. Ein The­ma verbindet die so unter­schiedlichen Doku­men­tarfilme aber ganz ein­deutig: In jedem der Filme geht es um die kom­plex­en Ver(w)irrungen zwis­chen Musik, Gesellschaft und Poli­tik.

Arabesk ist die Pop­musik der Türkei schlechthin. Arabesk, die Musik der ana­tolis­chen Land­flüchtlinge in den Städten der Türkei, wird seit ihrer Entste­hung von den Eliten des Lan­des ignori­ert – ja sog­ar ver­achtet: vor allem wegen ihrer als kitschig emp­fun­de­nen Musik und ihren wein­er­lichen, schw­erver­her­rlichen­den Texte. Im Film «Arabesk – Gossen­sound und Massen­pop» von Cem Kaya und Gökhan Bulut wer­den diese dur­chaus poli­tisierten Geschmacks­fra­gen ganz genau disku­tiert – unter anderem von Ser­hat Kök­sal aka 2/5 BZ, der am Mittwoch 12.1 zur Arabesk Sound und Video-Per­for­mance in der Turn­halle im PROGR Bern ein­lädt.

Im Film «Muezzin» wirken Gesellschaft und Poli­tik im Hin­ter­grund: Halit Aslan, Muezzin der his­torischen Istan­buler Fatih-Moschee, misst sich beim nationalen Gebet­srufwet­tbe­werb mit der türkischen Muezzin-Konkur­renz. Der Jurist am Istan­buler Auswahl-Wet­tbe­werb ist Absol­vent des Kon­ser­va­to­ri­ums und bew­ertet nach musikalis­chen Kri­te­rien – Arabesk wäre ihm wohl ein Greuel. Spüren wir da den Min­der­w­er­tigkeit­skon­flikt, der auch in ara­bis­chen Län­dern auszu­machen ist? Seit Beginn des 20sten Jahrhun­derts wird Musik auch da nach europäis­chen Lehrmeth­o­d­en unter­richtet, und im Konz­ert­saal wird nach europäis­chen Vor­bild musiziert: mit Orch­estern statt kleinen Ensem­bles, mit Har­monien statt mit Het­ero­phonie, mit vorge­fer­tigten Kom­po­si­tio­nen statt impro­visatorischen Abläufen. Muezzin Halit Aslan ist sichtlich nervös vor seinem Auftritt beim Gesangswet­tbe­werb: «Es ist unmöglich, beim Wet­tbe­werb dieselbe Emo­tion­al­ität zu erre­ichen, wie auf dem Minarett», sagt er.

Der Film «Full Met­al Vil­lage» zeigt eine andere Inter­ak­tion zwis­chen Musik und Gesellschaft. „Lauter als die Hölle“, mit diesem Slo­gan kün­det das «Wack­en Fes­ti­val» 2011 sein 25.-jähriges Jubiläum an. «Wack­en» gilt als grösstes Heavy Met­al Fes­ti­val der Welt, Wack­en ist aber auch ein kleines Dorf in Schleswig-Hol­stein. Seinen Bewohn­ern wid­met die kore­anis­che Regis­seurin Cho Sung-Hyung ihren Film. Zwei ältere Damen fürcht­en sich vor den Satan-Anbetern, die da anreisen sollen. Viele Wack­en­er flücht­en vor dem Fes­ti­val. Ein paar wenige bleiben – erst recht. Bauer Trede etwa ver­mi­etet Park­plätze: «Man muss dem Geld ent­ge­gen gehen und ihm nicht hin­ter­her ren­nen», verkün­det er schlau.

Im Film «Whose is this Song?» wird die Verknüp­fung von Poli­tik und Musik überdeut­lich: Bul­gar­ische Nation­al­is­ten wollen die Filmemacherin Adela Pee­va am näch­st­besten Baum aufknüpfen – wenn sie noch ein­mal behaupte, das eben gesun­gene Lied stamme vielle­icht doch nicht aus Bul­gar­ien. Pee­va ist für ihren Doku­men­tarfilm durch die Türkei, Griechen­land, Maze­donien, Alban­ien, Ser­bi­en und Bosnien gereist, und über­all behaupteten die Men­schen: «Dieses Lied stammt von uns!» Über­all ste­ht dieses Lied für eine kul­turelle, poli­tis­che oder religiöse Gesin­nung – ob nun von den Musik­ern, Kom­pon­is­ten und Pro­duzen­ten so gewollt oder nicht. Musik verbindet die Men­schen vielle­icht also doch nicht: Wegen der Musik dro­hen Stre­it, Mord, Krieg.

In den Fil­men «Taqwa­core: The Birth of Punk Islam» und «Fokof­polisiekar» (Fuck-Off-Police-Car) attack­ieren US-amerikanis­che Mus­lime und weisse Südafrikan­er die weltweite Islam­o­pho­bie beziehungsweise die Vorurteile gegenüber Afrikaan­ern (weis­sen Südafrikan­ern nieder­ländis­ch­er Abstam­mung) auf ihre eigene Art und Weise. Sie wollen gute Musik machen und Spass haben. Direk­ter Protest dringt manch­mal zwar auch durch. Doch meis­tens wirkt dieser Protest iro­nisch. Für die exper­i­mentellen Musik­er aus Japan sind Kri­tik an Poli­tik und Gesellschaft schließlich in Klang und Krach ver­bor­gen. In Japan sei alles genormt, bekla­gen sie sich im Film «We Don’t Care About Music Any­way…»: Ihre Rolle sei es, neue Möglichkeit­en auszu­loten. In dieser Aus­sage kann bei­des steck­en: Die reine Freude am musikalis­chen Exper­i­ment, oder der Drang, die japanis­che Gesellschaft zu verän­dern.

Sieben Filme an vier Aben­den entwirren zwar nicht unbe­d­ingt die Ver­wor­ren­heit von Musik, Gesellschaft und Poli­tik. Sie laden aber ein zu ein­er anspruchsvollen und zugle­ich vergnüglichen Verir­rung in die Welt des glob­al­isierten Musizierens.

Weit­ere Infos:
www.norient.com
www.megafon.ch (nicht aktu­al­isiert, aber kon­tak­tier­bar…)
www.bee-flat.ch
www.bonsoir.ch

Foto: «We Don‘t Care About Music Any­way…»
ensuite, Jan­u­ar 2011

Artikel online veröffentlicht: 20. Dezember 2018