Von Jean-Christophe Ammann - Anlässlich der Vernissage der 6. Jubiläumsausstellung «Ich bin der letzte Maler» (M. Disler) in der Galerie Rigassi in Bern, hielt Jean-Christophe Ammann, Schweizer Kunsthistoriker und Kurator, die Eröffnungsrede. Es war ein Exkurs, der im Anschluss unter den Anwesenden für viel Gesprächsstoff sorgte. Wir dürfen hier das zweiteilige Script veröffentlichen und erinnern gerne daran, dass eine Vernissage ein sozialer Ort ist, an dem neben der Kunst auch Gedanken ausgetauscht werden können. Dies soll als Einladung verstanden sein, mitzudenken, und Kunst nicht nur als Ergänzung zum Liegesessel zu verstehen:
‹Ich stimme mit Isaiah Berlin überein, der in einem Interview sagt: «Ich finde umfassende Systeme unbehaglich.» Mich schaudert vor Köpfen, die alle Ereignisse als Fälle allgemeingültiger Regeln und Prinzipien betrachten Ich glaube an die tiefverwurzelte Unaufgeräumtheit von allem. Ordentlichkeit assoziiere ich mit Diktatur.›
Von Vereinheitlichungsbestrebungen soll die Rede sein bzw. von deren Scheitern. Bislang geschah dies ausführlich am Beispiel von Utopien aus der Zeit der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Im Vordergrund stand die ideale, horizontale Gesellschaft, die häufig mit Biegen und Brechen über die Köpfe des Menschen hinweg sowohl geplant als auch verwirklicht werden wollte. Dass Vereinheitlichungsbestrebungen auch jenseits solcher Utopien anthropologisch verankert sind, gleicht einer Notwendigkeit, dahingehend, dass sie Übersichtlichkeit, Orientierung und Perspektiven vermitteln.
Wenn ich darüber spreche, so deshalb, weil das Auseinanderbrechen von Vereinheitlichungen der Situation in der heutigen Kunst entspricht. Ich sage es mal so: man muss sich Desorientierung auch leisten können, man muss die Kraft, das Wissen, die Erfahrung und vor allem die Neugier haben, sich in ihr wohl zu fühlen, bereit sein eigene Wege zu gehen. Fazit, auf die Kunst bezogen: Es gibt nichts zu erfinden, aber vieles zu entdecken.
Vereinheitlichungsbestrebungen sind entweder Welterklärungsmodelle, sind ideologischer Natur oder dienen der kollektiven Identität. Im ersten Fall haben wir es mit kosmologischen Vorstellungen zu tun. So sagten die indischen Veden vor 4000 Jahren, die Struktur des Kosmos bestehe aus einer hohen Gesetzmäßigkeit, 300 Jahre später bestätigten die Upanishaden diesen Befund, fügten jedoch hinzu, der Kosmos besitze ein Bewusstsein. Beide beharrten auf der Seelenwanderung nach dem Tod, als einen Weg der Reinigung.
Erinnern wir uns – was die Ideologien angeht – an die verhängnisvolle Utopie des Welt-Kommunismus, und an den verheerenden rassenideologischen Nationalsozialismus. Sie haben Millionen von Menschen das Leben gekostet.
Im dritten Fall haben wir es eher mit Mythen oder mythologischen Überhöhungen zu tun, so zum Beispiel mit der isländischen Snorra-Edda oder Lieder-Edda, niedergeschrieben, wenn auch ursprünglich viel älter, im 13. Jahrhundert. Der mittelasiatische Gilgamesch-Epos entstand zirka tausend vor Christus. Natürlich sind auch Bibel und Koran Welterklärungsmodelle mit Vereinheitlichungsansprüchen, jedoch liegt ihnen eine theologische und ethische Ausrichtung zugrunde. Für die Griechen galt Homer, der Verfasser der «Ilias» und der «Odyssee» – er lebte im achten Jahrhundert v. Chr. in Kleinasien – als der Gestalter ihres Götter- und Menschenbildes.
Eine Vereinheitlichungsstrategie globalen Ausmaßes schuf Alexander der Große, der, im Alter von 33 Jahren, 323 v. Chr. in Babylon starb. Seine Idee war die ethnische, kulturelle und politische Verschmelzung der griechisch-makedonischen und iranischen Völker seines Reiches zu verwirklichen. Er wollte die Perser als Stützen seiner Herrschaft heranziehen. Die Politik des Ausgleichs und die Gleichstellung der Perser empörte aber seine eigenen Makedonen. Es kam zum Aufstand.
Genial war Alexander deshalb – sein Lehrer war Aristoteles –, weil er dem in schweren Kämpfen geschlagenen Feind die kulturellen Eigenarten und religiösen Überzeugungen beließ.
Während die Inder, Kraft einer unerhörten Intuition, Gesetzmäßigkeit und Bewusstsein für den Kosmos in Anspruch nahmen, wurde im christlichen Abendland die Wissenschaft durch die Theologie, als allmächtiges, in sich konsistentes System, teils schwer behindert. Es war Nikolaus Kopernikus (1473 — 1543), der die kopernikanische Wende einläutete, also die Abkehr vom geozentrischen Weltsystem hin zum heliozentrischen. Dass er von der Inquisition verschont blieb, verdankte er unter anderem dem Umstand, dass er seine Forschungen als Privatmann betrieb, und ab 1510 in Frauenburg, dem polnischen Frombork lebte. Ganz anders erging es Giordano Bruno, der 1600 auf dem Campo dei Fiori in Rom den Feuertod erlitt, und Galileo Galilei, der 1642, fast erblindet, in unbefristeter Haft starb. Beide setzten sich vehement für das heliozentrische Weltbild ein, ausgehend von Tycho Brahe und dessen Assistenten Johannes Kepler.
Leonardo da Vinci war ein genialer und akribischer Forscher und Maler, ein begnadeter Künstler-Ingenieur, aber Vereinheitlichungsbestrebungen im Sinne eines Welterklärungsmodells verfolgte er nicht.
Die Vereinheitlichungsbestrebungen René Descartes’ bestanden darin, die Natur insgesamt, also auch den Menschen und seine Psyche, als rational erfassbar zu deuten. So entstand ein Weltbild, das man als mechanistisch bezeichnen kann. Mit René Descartes, er starb 1650, setzt die moderne, mathematisch orientierte Wissenschaft auf breiter Ebene ein. Sie gründet auf dem Experiment, mit dem Ziel, durch dessen Wiederholbarkeit eine Theorie zu schaffen.
Das unterscheidet das Abendland von den «indischen Weisheiten»: Der mathematisch-physikalische Diskurs bedarf der experimentell bestätigten Schlüssigkeit. Als Rudolf Clausius (1822 — 1888) ab 1850 das Prinzip von der Erhaltung der Energie begründete, und 1865 den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, das bis heute gültige Entropie-Gesetz schuf, bewies er gewissermaßen die von den Veden und Upanishaden eingeforderte Seelenwanderung. Dort wandert die Seele durch Tierwelten in immer lichtere Höhen. Der Begriff der Seele jedoch ist derart diffus, dass er eigentlich nur theologisch oder umgangssprachlich gehandhabt werden kann. Betrachtet man jedoch den Menschen als geistig-energetisches, auf Wirkung bedachtes Wesen und setzt voraus, dass gemäß dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Energie, bzw. Information nicht verloren geht, kann man behaupten, dass die Seele eine Energieform darstellt, die den Menschen überdauert. Jetzt ist es ja so, dass der Entropie-Prozess irreversibel ist. In einem geschlossenen System fließt Wärme in den kälteren Bereich. Bei einer maximalen Entropie entsteht ein völliger Stillstand, genannt «Wärmetod». Schon Clausius übertrug den Entropie-Prozess auf das Universum, das er als geschlossenes System betrachtete und von dem er sagte, dass dessen Erkaltung irreversibel sei. Der Physiker und Chemiker Manfred Eigen sagt jedoch einleuchtend, dass die Entropie bei lebenden Systemen – auch der Kosmos ist ein «lebendes» System – durch die ständige Zufuhr von Energie kompensiert wird. – Die Seele wäre dann eine ganzheitliche, die geistige Energie transzendierende Kraft.
Was die Kunst angeht, ist der Energieerhalt nicht weniger begründet. Beweisen lässt sich dies nicht direkt. Aber dass die Kunst schöpferische, psycho-emotionale Energie sedimentiert, macht aus jedem großen Kunstwerk einen dauerhaften Energiespeicher.
Es gibt beispielsweise Werke aus dem Mittelalter, die gute Handwerkskunst sind. Man schaut Jahrhunderte zurück. Aber dann gibt es Werke, da schaut man nicht zurück, weil die Energie unmittelbar gegenwärtig ist, sich auf den Betrachter wie eine Erleuchtung auswirkt.
Kunstwerke wurden grundsätzlich immer behütet. Erlitten sie durch Feindeshand Schaden, oder wurden gar zerstört, so war nicht das Kunstwerk direkt gemeint, sondern die Identität der Gemeinschaft, die es hervorgebracht hatte.
Zum ersten Mal überhaupt konvergieren im Abendland Physik, Religion und Kunst. Das neue Buch von Roger Penrose handelt fast ausschließlich vom Energieerhalt, auch in einer unendlich fernen Zukunft, wenn das Universum nur noch aus Strahlung besteht. Religion (nicht Theologie) als Ursprungsgedanke betrachtet die Seele als unsterblich. Kunst, in jeder Gattung, ist als schöpferischer Gestaltungswille dem Menschen in die Wiege gelegt. Ein Mensch der nicht gestaltet, regrediert. – Die Rede ist von einer universalen Erzählung, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Physik, jenseits des Experiments, mathematisch fiktionalisiert hat.
Zurück zu den expliziten Vereinheitlichungsbestrebungen. Ludwig Wittgenstein (1889 — 1951) gehört zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine 1918 bei Bertrand Russell eingereichte Dissertation trägt den Titel: «Tractatus logico-philosphicus». Als junger Leutnant der Artillerie diente er im österreichischen Heer, kam nach Kriegsende in italienische Gefangenschaft, schrieb in jeder ruhigen Stunde an seiner Doktorarbeit, die 1921 publiziert wurde. Der «Tractatus» ist ein Welterklärungsmodell par excellence, beginnend mit dem Satz: «Die Welt ist alles, was der Fall ist». Es handelt sich in Form einer hochkomplexen Dezimalklassifikation um einen sprachphilosophisch und formallogisch strukturierten Text. Die Arbeit ist derart radikal, dass sich Wittgenstein in der Folge davon abwandte, jedoch der Sprachphilosophie treu blieb. Der letzte Satz des «Tractatus», noch berühmter als der erste, lautet: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.»
Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts bringt eine Wucht von Vereinheitlichungsprozessen hervor, 1900 beginnend mit Max Planck. Albert Einstein, der Schöpfer der Relativitätstheorie, ist zweifelsohne der größte Physiker des 20. Jahrhunderts.
In der Kunst ist es der Jugendstil, der ein Gesamtkunstwerk verkörperte. (Ein Begriff, der auf Richard Wagner zurückgeht, der zwischen 1849 — 1851 eine Synergie zwischen Wort, Ton und Musikdrama entwickelte.) Der überragende Protagonist des Jugendstils war der 1863 in Antwerpen geborene Henry van der Velde. Er war, was der Franzose ein «homme orchestre» nennt. Ein Formgestalter und Architekt erster Güte. Harry Graf Kessler holte ihn von Brüssel nach Berlin und wenig später nach Weimar. Zwölf Jahre, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war er in Weimar und Thüringen tätig, schuf herausragende Bauten, und mit sicherem Gefühl für den richtigen Mann empfahl er Walter Gropius als seinen Nachfolger auf den Direktorenposten der Kunst- und Kunstgewerbeschule Weimar. Gropius rüstete das Institut 1919 zum staatlichen Bauhaus Weimar um, das seinerseits eine konstruktive Kunst und Architektur verbindende Vereinheitlichungsvision und ‑strategie vor Augen hatte.
Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg beendeten eine glanzvolle europäische Geistesgeschichte. Dass ein im Zweiten Weltkrieg durch einen Flugzeugabsturz an der Ostfront schwer verwundeter deutscher Soldat nochmals ein Gesamtkunstwerk schaffen sollte, dürfte nicht erstaunen. Er heißt Joseph Beuys (1921 — 1986). Sein Werk ist eine antagonistische Antwort auf die «Gesamtkunst» von Adolf Hitler. Beuys ist im Volksmund der Mann mit dem Hut, der Fett- und Filzkünstler. Er ist der größte Zeichner des 20. Jahrhunderts, weil er in den vielen tausend Blättern nicht parallel zu anderen Schaffensbereichen gezeichnet hat, sondern über das zeichnerische Medium eine ganzheitliche Vision von Welt erarbeitete. Die holistische, auf Wechselwirkung angelegte Programmatik ist allumfassend, beruht explizit auf dem Wärmebegriff (=Energie=Wirkung), und erschließt ein anthropologisches Weltbild, das den Menschen konstitutiv in die Natur einbindet. (Beuys hat für sein Schaffen nie den Begriff des Gesamtkunstwerks beansprucht.)
Während die künstlerischen Avantgarden bis Mitte der 1970er Jahre noch Ausschließlichkeitsmodelle mit Wahrheitsanspruch postulierten, verlor sich deren Impetus ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Die Avantgarden schlossen mehr aus denn ein. Das utopisch angepeilte Horizontsegment erweiterte sich in einen Umkreis von 360°. An Stelle weniger Kraftlinien gab es plötzlich schier unendlich viele. Von Vereinheitlichungsmodellen war nicht mehr die Rede. Der Kollaps der Sowjetunion machte 1991 dem letzten in die Stalinzeit zurückreichenden Vereinheitlichungsmodell planwirtschaftlicher Natur ein Ende.
Interessanterweise existieren auch in der Finanzmodelltheorie Vereinheitlichungsbestrebungen. Ziel war es, die potentiellen Verlusteffekte aus Kreditausfällen, Marktpreisentwicklungen, sowie operationellen Fehlern zu erfassen und in einem Algorithmus zusammenzuführen. Das von Robert Merton und Myron Scholes entwickelte und mit Grundlagen von Fischer Black ergänzte Modell setzte sich letztlich durch, wurde mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet, sowie von den Aufsichtsbehörden zum Standard für potentielle Verlustrechnungen erklärt. Das Modell scheiterte deshalb, weil das Ausfallrisiko gewaltig unterschätzt wurde. Das von den Nobelpreisträgern mitbegündete Unternehmen «Long-Term-Capital-Management» ging bereits 1998 in Konkurs. Fazit: Schon zehn Jahre vor der verheerenden «Subprime»-Krise zeichneten sich Verwerfungen ab, die durch die an sich korrekten mathematischen Grundlagen nie und nimmer aufgefangen werden konnten. Jedoch, die Mathematik ging von falschen Voraussetzungen aus.
Ein Vereinheitlichungsbestreben von immenser Tragweite, verstanden als Welterklärungsmodell, zeichnete sich in er Physik ab, ging es doch darum, die 1916 von Albert Einstein formulierte Allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik in Einklang zu bringen.
In einer Welt auseinanderstrebender Energien, ist der Kampf um die sogenannte «Weltformel», also jene, die alles erklärt und alle Widersprüche vereint, voll entbrannt. Lee Smolin (*1955), Leiter des kanadischen «Perimeter Institute for Theoretical Physics», berichtet darüber in seinem Buch «Die Zukunft der Physik – Probleme der Stringtheorie und wie es weitergeht».
Versuchen wir kurz das Problem zu schildern: Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt Raum, Zeit, Bewegung und Gravitation. Gravitation und Bewegung sind eng mit der Geometrie von Raum und Zeit verbunden, dahingehend, dass die Raumzeit-Geometrie sich mit der Zeit verändert. Mit Einstein schauen wir in das Universum. Mit der Quantenmechanik – ab 1925 mit Werner Schrödinger, Nils Bohr, Werner Heisenberg und Louis de Broglie – tauchen wir in den subatomaren Bereich. Dort können Gravitationsprobleme und Zeit vernachlässigt werden. Isolieren wir ein Teilchen aus einer Welle bzw. messen es, können wir nicht gleichzeitig Aufenthalt und Impuls bestimmen. Beide Bereiche kommen nicht zusammen, weil sich Teilchen und Wellen im subatomaren Bereich anders verhalten als Galaxien, deren Licht wir beobachten können. – Anders ausgedrückt: Die Unschärferelation besagt, dass wir nicht den genauen Aufenthaltsort eines Teilchens bestimmen können, wenn wir seine genaue Geschwindigkeit ermitteln möchten; und umgekehrt können wir nicht die genaue Geschwindigkeit eines Teilchens messen, wenn wir seinen genauen Aufenthaltsort ermitteln wollen.
Einen ersten Schritt zur Vereinheitlichung hat Richard Feynman Anfang der 1970er Jahre mit der «Grand Unified Theory (GUT)» geschaffen, indem er 12 Teilchen und vier Kräfte im Standardmodell der Teilchenphysik formuliert hat, allerdings ohne Berücksichtigung von Gravitation und Zeit. Erschwerend sind 1998 die dunkle Energie und die schwarze Materie hinzugekommen. Die dunkle Energie beschleunigt die Expansion des Universums, die schwarze Materie – schwarz, weil sie kein Licht emittiert – befindet sich innerhalb von Galaxien, müsste eigentlich aufgrund ihrer Ausmaße die Expansion bremsen. Der langen Rede kurzer Sinn: Wenn wir alle sichtbaren Galaxien und Radioquellen zusammenfassen, macht das 4% des Universums aus. 70% der Materiedichte scheint in Gestalt der dunklen Energie vorzuliegen, 26% wären schwarze Materie.
Mit dem Ziel, eine Weltformel zu schaffen, entwickelt sich die Superstring-Theorie. 1984 fand die erste große Konferenz statt, elf Jahre später die zweite. Die Theorie hatte enormen Zulauf, und wie Lee Smolin verärgert feststellt, zog sie eine Unmenge von Forschungsgeldern an sich. Mit der String-Theorie ergab sich die Möglichkeit einer Quantentheorie der Gravitation. Das Verrückte an der Geschichte ist, dass es sich bei der Superstring-Theorie um eine hochkomplizierte Mathematik handelt, die sich nicht experimentell überprüfen lässt. Erfolg und Stringenz der experimentellen Überprüfbarkeit zeigt sich am Beispiel einer erst kürzlich erfolgten Bestätigung von Einsteins Relativitätstheorie. Am 10. Mai 2009 entdeckten Forscher einen zwei Sekunden langen Gammastrahlenausbruch in einer 7,3 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie. Gemäß Annahmen sollten sich die hochenergetischen Strahlen etwas langsamer ausbreiten als die niederenergetischen. Der Grund besteht darin, dass die kürzeren Wellenlängen der hochenergetischen Strahlen die Unregelmäßigkeiten der Raumzeit stärker zu spüren bekommen als die niederenergetischen, deren Licht mit größerer Wellenlänge über die Unebenheiten der Raumzeit hinwegrast. – Das Resultat war verblüffend, setzte die Annahmen schachmatt. Die hochenergetischen Gammastrahlen waren auf eine Distanz von 7,3 Milliarden Lichtjahren nur 0,9 Sekunden langsamer. Fazit im Sinne Einsteins: Die Zeitverzögerung schließt eine Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von Energie weitgehend aus.
Zurück zur experimentell nicht überprüfbaren Stringtheorie. Schon bald entwickelten sich mit bis zu zehn Raumdimensionen aus der einen nunmehr fünf Theorien, die alle endlich sind, das heißt, dass nur endliche Zahlen vorkommen, was unerlässlich ist. (Nachvollziehbar für jeden sind vier Raumdimensionen, wenn man die Zeit hinzunimmt.)
Ich zitiere den Quantenphysiker Martin Bojowald (*1973), der es so schön und verständlich sagt: «Durch Zurückführen aller Erscheinungen der Elementarteilchenphysik auf ein einziges Objekt [sprich: String/Saite] verspricht die String-Theorie die bekannten Kräfte, neben Gravitation und Elektromagnetismus, also die starke und die schwache Wechselwirkung, zu einer einzigen Kraftformel zu vereinigen. Es gäbe dann nicht unterschiedliche Konzepte wie die Raum-Zeit als Trägerin der Gravitationskraft und das elektromagnetische Feld als Träger der elektrischen Kraft, sondern ein einziges Objekt, aus dessen Schwingungen alle Kräfte sowie die Materieteilchen, auf die diese wirken, hervorgehen sollen. Dieses Objekt in elementarer Form ist eben der namengebende String. […] Hier gibt es kein Orchester von unterschiedlich aufgespannten Saiten, sondern nur die Solistin der String-Theorie selbst. Wie sich nach langer Forschung herausgestellt hat, sind nämlich alle möglichen Aufstellungen der fundamentalen Strings mathematisch miteinander verwandt. Unterschiedliche Klangfarben ergeben dann keine unterschiedliche Physik, sondern sind nur verschiedenartige mathematische Sichtweisen auf dieselbe Physik.»
Die ursprünglich fünf Superstring-Theorien haben mittlerweile 10’500 Paralleluniversen geboren. Das sind eine Eins und 500 Nullen. Man spricht von «Landschaften», «Populationen von Universen» oder «Kompaktifizierungen». Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Man darf nicht vergessen, dass die Mathematik einen hohen Grad an Schlüssigkeit besitzt, und dass die Forderung nach einer experimentellen, sagen wir mal, wirklichkeitsnahen Überprüfung illusorisch ist, weil die Möglichkeiten derart vielfältig sind, dass man sich mit einem völlig neuen Weltbild abfinden muss. Die angestrebte Vereinheitlichung zur «Weltformel» ist zur Obsession geworden.
Weshalb spreche ich von solchen Dingen? Weil ich der Überzeugung bin, dass wir den Kosmos in uns tragen, bzw. Teil dieses Kosmos sind. Vielleicht gibt es keine «Weltformel». So wie jeder einzelne der 6,5 Milliarden Menschen auf diesem Planeten durch eine DNA-Analyse identifiziert werden kann, so muss vielleicht jedes dieser 10’500 Universen einzeln identifiziert werden. Ein Albtraum, geht es doch in der Intention um eine einfache Formel, etwa im Sinne von Einsteins «e = mc2» (Energie = Masse x Geschwindigkeit im Quadrat). Vielleicht gleicht die Suche nach der «Weltformel» der Suche nach dem Gral.
Vielleicht sind die Vereinheitlichungsbestrebungen eine der Utopie zugrunde liegende Teleologie, also im Voraus bestimmte ideale Endzustände. Der Turmbau zu Babel war auch so eine Utopie von Vereinheitlichung, von einem gottähnlichen Streben nach dem Ganzen geprägt. Aber da spielte Gott nicht mit, schuf die Sprachverwirrung, und somit die kulturelle und ethnische Vielfalt. Der Physiker wird keine Einwände erheben. Hauptsache, dass sich alle Besonderheiten dem größten gemeinschaftlichen Nenner unterordnen. Dass die Natur ein Ganzes ist, daran ist wohl kaum zu zweifeln, aber möglich ist, dass in einem unendlichen Tiefenraum die Materie sich derart anders verhält, dass diese – und das ist das Entscheidende – nicht mehr formalisierbar ist, bzw. anderen Gesetzen gehorcht. Deshalb gefällt mir der Albtraum der Physiker, sich mit 10’500 «Landschaften» beschäftigen zu müssen, weil dieser Albtraum der Natur so nahe kommt. Betrachten wir das menschliche Hirn. Es ist ein Kosmos. Manfred Frank, Professor für Philosophie in Tübingen, sagt dezidiert, dass es den Neurowissenschaftlern «nie gelingen wird, Geist oder Seele auf neuronale Prozesse zurückzuführen.» In seinem 2008 erschienenen Buch «Das Gehirn – ein Beziehungsorgan» argumentiert der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs in die gleiche Richtung, dahingehend, dass die neuronalen Muster zwar dem naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhang unterliegen, zugleich aber «einer übergeordneten Bestimmung durch nicht physikalische Funktions- und Bedeutungszusammenhänge gehorchen, insbesondere durch die individuelle Lerngeschichte des Lebewesens, die sich in seinem leiblichen, seelischen und geistigen Vermögen niedergeschlagen hat.»
Jedes Hirn wäre dann wie eines der schier unendlich vielen String-Universen. […]
Galerie Rigassi
Münstergasse 62; 3011 Bern
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Foto: zVg.
ensuite, August 2012