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Vereinheitlichungsbestrebungen und deren Scheitern

Von Jean-Christophe Ammann - Anlässlich der Vernissage der 6. Jubiläum­sausstel­lung «Ich bin der let­zte Maler» (M. Disler) in der Galerie Rigas­si in Bern, hielt Jean-Christophe Ammann, Schweiz­er Kun­sthis­torik­er und Kura­tor, die Eröff­nungsrede. Es war ein Exkurs, der im Anschluss unter den Anwe­senden für viel Gesprächsstoff sorgte. Wir dür­fen hier das zweit­eilige Script veröf­fentlichen und erin­nern gerne daran, dass eine Vernissage ein sozialer Ort ist, an dem neben der Kun­st auch Gedanken aus­ge­tauscht wer­den kön­nen. Dies soll als Ein­ladung ver­standen sein, mitzu­denken, und Kun­st nicht nur als Ergänzung zum Liege­ses­sel zu ver­ste­hen:

‹Ich stimme mit Isa­iah Berlin übere­in, der in einem Inter­view sagt: «Ich finde umfassende Sys­teme unbe­haglich.» Mich schaud­ert vor Köpfen, die alle Ereignisse als Fälle all­ge­me­ingültiger Regeln und Prinzip­i­en betra­cht­en Ich glaube an die tiefver­wurzelte Unaufgeräumtheit von allem. Ordentlichkeit assozi­iere ich mit Dik­tatur.›

Von Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen soll die Rede sein bzw. von deren Scheit­ern. Bis­lang geschah dies aus­führlich am Beispiel von Utopi­en aus der Zeit der Antike bis ins 20. Jahrhun­dert. Im Vorder­grund stand die ide­ale, hor­i­zon­tale Gesellschaft, die häu­fig mit Biegen und Brechen über die Köpfe des Men­schen hin­weg sowohl geplant als auch ver­wirk­licht wer­den wollte. Dass Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen auch jen­seits solch­er Utopi­en anthro­pol­o­gisch ver­ankert sind, gle­icht ein­er Notwendigkeit, dahinge­hend, dass sie Über­sichtlichkeit, Ori­en­tierung und Per­spek­tiv­en ver­mit­teln.

Wenn ich darüber spreche, so deshalb, weil das Auseinan­der­brechen von Vere­in­heitlichun­gen der Sit­u­a­tion in der heuti­gen Kun­st entspricht. Ich sage es mal so: man muss sich Des­ori­en­tierung auch leis­ten kön­nen, man muss die Kraft, das Wis­sen, die Erfahrung und vor allem die Neugi­er haben, sich in ihr wohl zu fühlen, bere­it sein eigene Wege zu gehen. Faz­it, auf die Kun­st bezo­gen: Es gibt nichts zu erfind­en, aber vieles zu ent­deck­en.

Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen sind entwed­er Wel­terk­lärungsmod­elle, sind ide­ol­o­gis­ch­er Natur oder dienen der kollek­tiv­en Iden­tität. Im ersten Fall haben wir es mit kos­mol­o­gis­chen Vorstel­lun­gen zu tun. So sagten die indis­chen Veden vor 4000 Jahren, die Struk­tur des Kos­mos beste­he aus ein­er hohen Geset­zmäßigkeit, 300 Jahre später bestätigten die Upan­ishaden diesen Befund, fügten jedoch hinzu, der Kos­mos besitze ein Bewusst­sein. Bei­de behar­rten auf der See­len­wan­derung nach dem Tod, als einen Weg der Reini­gung.

Erin­nern wir uns – was die Ide­olo­gien ange­ht – an die ver­häng­nisvolle Utopie des Welt-Kom­mu­nis­mus, und an den ver­heeren­den rassenide­ol­o­gis­chen Nation­al­sozial­is­mus. Sie haben Mil­lio­nen von Men­schen das Leben gekostet.

Im drit­ten Fall haben wir es eher mit Mythen oder mythol­o­gis­chen Über­höhun­gen zu tun, so zum Beispiel mit der isländis­chen Snor­ra-Edda oder Lieder-Edda, niedergeschrieben, wenn auch ursprünglich viel älter, im 13. Jahrhun­dert. Der mit­te­lasi­atis­che Gil­gamesch-Epos ent­stand zir­ka tausend vor Chris­tus. Natür­lich sind auch Bibel und Koran Wel­terk­lärungsmod­elle mit Vere­in­heitlichungsansprüchen, jedoch liegt ihnen eine the­ol­o­gis­che und ethis­che Aus­rich­tung zugrunde. Für die Griechen galt Homer, der Ver­fass­er der «Ilias» und der «Odyssee» – er lebte im acht­en Jahrhun­dert v. Chr. in Kleinasien – als der Gestal­ter ihres Göt­ter- und Men­schen­bildes.

Eine Vere­in­heitlichungsstrate­gie glob­alen Aus­maßes schuf Alexan­der der Große, der, im Alter von 33 Jahren, 323 v. Chr. in Baby­lon starb. Seine Idee war die eth­nis­che, kul­turelle und poli­tis­che Ver­schmelzung der griechisch-make­donis­chen und iranis­chen Völk­er seines Reich­es zu ver­wirk­lichen. Er wollte die Pers­er als Stützen sein­er Herrschaft her­anziehen. Die Poli­tik des Aus­gle­ichs und die Gle­ich­stel­lung der Pers­er empörte aber seine eige­nen Make­do­nen. Es kam zum Auf­s­tand.

Genial war Alexan­der deshalb – sein Lehrer war Aris­tote­les –, weil er dem in schw­eren Kämpfen geschla­ge­nen Feind die kul­turellen Eige­narten und religiösen Überzeu­gun­gen beließ.

Während die Inder, Kraft ein­er uner­hörten Intu­ition, Geset­zmäßigkeit und Bewusst­sein für den Kos­mos in Anspruch nah­men, wurde im christlichen Abend­land die Wis­senschaft durch die The­olo­gie, als allmächtiges, in sich kon­sis­tentes Sys­tem, teils schw­er behin­dert. Es war Niko­laus Kopernikus (1473 — 1543), der die kopernikanis­che Wende ein­läutete, also die Abkehr vom geozen­trischen Welt­sys­tem hin zum heliozen­trischen. Dass er von der Inqui­si­tion ver­schont blieb, ver­dank­te er unter anderem dem Umstand, dass er seine Forschun­gen als Pri­vat­mann betrieb, und ab 1510 in Frauen­burg, dem pol­nis­chen From­bork lebte. Ganz anders erg­ing es Gior­dano Bruno, der 1600 auf dem Cam­po dei Fiori in Rom den Feuer­tod erlitt, und Galileo Galilei, der 1642, fast erblind­et, in unbe­fris­teter Haft starb. Bei­de set­zten sich vehe­ment für das heliozen­trische Welt­bild ein, aus­ge­hend von Tycho Bra­he und dessen Assis­ten­ten Johannes Kepler.

Leonar­do da Vin­ci war ein genialer und akribis­ch­er Forsch­er und Maler, ein beg­nade­ter Kün­stler-Inge­nieur, aber Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen im Sinne eines Wel­terk­lärungsmod­ells ver­fol­gte er nicht.

Die Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen René Descartes’ bestanden darin, die Natur ins­ge­samt, also auch den Men­schen und seine Psy­che, als ratio­nal erfass­bar zu deuten. So ent­stand ein Welt­bild, das man als mech­a­nis­tisch beze­ich­nen kann. Mit René Descartes, er starb 1650, set­zt die mod­erne, math­e­ma­tisch ori­en­tierte Wis­senschaft auf bre­it­er Ebene ein. Sie grün­det auf dem Exper­i­ment, mit dem Ziel, durch dessen Wieder­hol­barkeit eine The­o­rie zu schaf­fen.

Das unter­schei­det das Abend­land von den «indis­chen Weisheit­en»: Der math­e­ma­tisch-physikalis­che Diskurs bedarf der exper­i­mentell bestätigten Schlüs­sigkeit. Als Rudolf Clau­sius (1822 — 1888) ab 1850 das Prinzip von der Erhal­tung der Energie begrün­dete, und 1865 den Zweit­en Haupt­satz der Ther­mo­dy­namik, das bis heute gültige Entropie-Gesetz schuf, bewies er gewis­ser­maßen die von den Veden und Upan­ishaden einge­forderte See­len­wan­derung. Dort wan­dert die Seele durch Tier­wel­ten in immer lichtere Höhen. Der Begriff der Seele jedoch ist der­art dif­fus, dass er eigentlich nur the­ol­o­gisch oder umgangssprach­lich gehand­habt wer­den kann. Betra­chtet man jedoch den Men­schen als geistig-ener­getis­ches, auf Wirkung bedacht­es Wesen und set­zt voraus, dass gemäß dem Zweit­en Haupt­satz der Ther­mo­dy­namik Energie, bzw. Infor­ma­tion nicht ver­loren geht, kann man behaupten, dass die Seele eine Energieform darstellt, die den Men­schen über­dauert. Jet­zt ist es ja so, dass der Entropie-Prozess irre­versibel ist. In einem geschlosse­nen Sys­tem fließt Wärme in den käl­teren Bere­ich. Bei ein­er max­i­malen Entropie entste­ht ein völ­liger Still­stand, genan­nt «Wärme­tod». Schon Clau­sius übertrug den Entropie-Prozess auf das Uni­ver­sum, das er als geschlossenes Sys­tem betra­chtete und von dem er sagte, dass dessen Erkaltung irre­versibel sei. Der Physik­er und Chemik­er Man­fred Eigen sagt jedoch ein­leuch­t­end, dass die Entropie bei leben­den Sys­te­men – auch der Kos­mos ist ein «leben­des» Sys­tem – durch die ständi­ge Zufuhr von Energie kom­pen­siert wird. – Die Seele wäre dann eine ganzheitliche, die geistige Energie tran­szendierende Kraft.

Was die Kun­st ange­ht, ist der Energieer­halt nicht weniger begrün­det. Beweisen lässt sich dies nicht direkt. Aber dass die Kun­st schöpferische, psy­cho-emo­tionale Energie sed­i­men­tiert, macht aus jedem großen Kunst­werk einen dauer­haften Energiespe­ich­er.

Es gibt beispiel­sweise Werke aus dem Mit­te­lal­ter, die gute Handw­erk­skun­st sind. Man schaut Jahrhun­derte zurück. Aber dann gibt es Werke, da schaut man nicht zurück, weil die Energie unmit­tel­bar gegen­wär­tig ist, sich auf den Betra­chter wie eine Erleuch­tung auswirkt.

Kunst­werke wur­den grund­sät­zlich immer behütet. Erlit­ten sie durch Fein­de­s­hand Schaden, oder wur­den gar zer­stört, so war nicht das Kunst­werk direkt gemeint, son­dern die Iden­tität der Gemein­schaft, die es her­vorge­bracht hat­te.

Zum ersten Mal über­haupt kon­vergieren im Abend­land Physik, Reli­gion und Kun­st. Das neue Buch von Roger Pen­rose han­delt fast auss­chließlich vom Energieer­halt, auch in ein­er unendlich fer­nen Zukun­ft, wenn das Uni­ver­sum nur noch aus Strahlung beste­ht. Reli­gion (nicht The­olo­gie) als Ursprungs­gedanke betra­chtet die Seele als unsterblich. Kun­st, in jed­er Gat­tung, ist als schöpferisch­er Gestal­tungswille dem Men­schen in die Wiege gelegt. Ein Men­sch der nicht gestal­tet, regrediert. – Die Rede ist von ein­er uni­ver­salen Erzäh­lung, nicht zulet­zt auch deshalb, weil sich die Physik, jen­seits des Exper­i­ments, math­e­ma­tisch fik­tion­al­isiert hat.

Zurück zu den expliziten Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen. Lud­wig Wittgen­stein (1889 — 1951) gehört zu den bedeu­tend­sten Philosophen des 20. Jahrhun­derts. Seine 1918 bei Bertrand Rus­sell ein­gere­ichte Dis­ser­ta­tion trägt den Titel: «Trac­ta­tus logi­co-philosph­i­cus». Als junger Leut­nant der Artillerie diente er im öster­re­ichis­chen Heer, kam nach Kriegsende in ital­ienis­che Gefan­gen­schaft, schrieb in jed­er ruhi­gen Stunde an sein­er Dok­torar­beit, die 1921 pub­liziert wurde. Der «Trac­ta­tus» ist ein Wel­terk­lärungsmod­ell par excel­lence, begin­nend mit dem Satz: «Die Welt ist alles, was der Fall ist». Es han­delt sich in Form ein­er hochkom­plex­en Dez­i­malk­las­si­fika­tion um einen sprach­philosophisch und for­mal­lo­gisch struk­turi­erten Text. Die Arbeit ist der­art radikal, dass sich Wittgen­stein in der Folge davon abwandte, jedoch der Sprach­philoso­phie treu blieb. Der let­zte Satz des «Trac­ta­tus», noch berühmter als der erste, lautet: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.»

Das erste Drit­tel des 20. Jahrhun­derts bringt eine Wucht von Vere­in­heitlichung­sprozessen her­vor, 1900 begin­nend mit Max Planck. Albert Ein­stein, der Schöpfer der Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie, ist zweifel­sohne der größte Physik­er des 20. Jahrhun­derts.

In der Kun­st ist es der Jugend­stil, der ein Gesamtkunst­werk verkör­perte. (Ein Begriff, der auf Richard Wag­n­er zurück­ge­ht, der zwis­chen 1849 — 1851 eine Syn­ergie zwis­chen Wort, Ton und Musik­dra­ma entwick­elte.) Der über­ra­gende Pro­tag­o­nist des Jugend­stils war der 1863 in Antwer­pen geborene Hen­ry van der Velde. Er war, was der Fran­zose ein «homme orchestre» nen­nt. Ein For­mgestal­ter und Architekt erster Güte. Har­ry Graf Kessler holte ihn von Brüs­sel nach Berlin und wenig später nach Weimar. Zwölf Jahre, bis zum Aus­bruch des Ersten Weltkriegs, war er in Weimar und Thürin­gen tätig, schuf her­aus­ra­gende Baut­en, und mit sicherem Gefühl für den richti­gen Mann emp­fahl er Wal­ter Gropius als seinen Nach­fol­ger auf den Direk­toren­posten der Kun­st- und Kun­st­gewerbeschule Weimar. Gropius rüstete das Insti­tut 1919 zum staatlichen Bauhaus Weimar um, das sein­er­seits eine kon­struk­tive Kun­st und Architek­tur verbindende Vere­in­heitlichungsvi­sion und ‑strate­gie vor Augen hat­te.

Der Nation­al­sozial­is­mus und der Zweite Weltkrieg been­de­ten eine glanzvolle europäis­che Geis­tes­geschichte. Dass ein im Zweit­en Weltkrieg durch einen Flugzeu­gab­sturz an der Ost­front schw­er ver­wun­de­ter deutsch­er Sol­dat nochmals ein Gesamtkunst­werk schaf­fen sollte, dürfte nicht erstaunen. Er heißt Joseph Beuys (1921 — 1986). Sein Werk ist eine antag­o­nis­tis­che Antwort auf die «Gesamtkun­st» von Adolf Hitler. Beuys ist im Volksmund der Mann mit dem Hut, der Fett- und Filzkün­stler. Er ist der größte Zeich­n­er des 20. Jahrhun­derts, weil er in den vie­len tausend Blät­tern nicht par­al­lel zu anderen Schaf­fens­bere­ichen geze­ich­net hat, son­dern über das zeich­ner­ische Medi­um eine ganzheitliche Vision von Welt erar­beit­ete. Die holis­tis­che, auf Wech­sel­wirkung angelegte Pro­gram­matik ist allum­fassend, beruht expliz­it auf dem Wärme­be­griff (=Energie=Wirkung), und erschließt ein anthro­pol­o­gis­ches Welt­bild, das den Men­schen kon­sti­tu­tiv in die Natur ein­bindet. (Beuys hat für sein Schaf­fen nie den Begriff des Gesamtkunst­werks beansprucht.)

Während die kün­st­lerischen Avant­gar­den bis Mitte der 1970er Jahre noch Auss­chließlichkeitsmod­elle mit Wahrheit­sanspruch pos­tulierten, ver­lor sich deren Impe­tus ab der zweit­en Hälfte der 1970er Jahre. Die Avant­gar­den schlossen mehr aus denn ein. Das utopisch angepeilte Hor­i­zontseg­ment erweit­erte sich in einen Umkreis von 360°. An Stelle weniger Kraftlin­ien gab es plöt­zlich schi­er unendlich viele. Von Vere­in­heitlichungsmod­ellen war nicht mehr die Rede. Der Kol­laps der Sow­je­tu­nion machte 1991 dem let­zten in die Stal­inzeit zurück­re­ichen­den Vere­in­heitlichungsmod­ell plan­wirtschaftlich­er Natur ein Ende.

Inter­es­san­ter­weise existieren auch in der Finanz­mod­ellthe­o­rie Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen. Ziel war es, die poten­tiellen Ver­lus­t­ef­fek­te aus Kred­i­taus­fällen, Mark­t­preisen­twick­lun­gen, sowie oper­a­tionellen Fehlern zu erfassen und in einem Algo­rith­mus zusam­men­zuführen. Das von Robert Mer­ton und Myron Scholes entwick­elte und mit Grund­la­gen von Fis­ch­er Black ergänzte Mod­ell set­zte sich let­ztlich durch, wurde mit dem Nobel­preis für Wirtschaft aus­geze­ich­net, sowie von den Auf­sichts­be­hör­den zum Stan­dard für poten­tielle Ver­lus­trech­nun­gen erk­lärt. Das Mod­ell scheit­erte deshalb, weil das Aus­fall­risiko gewaltig unter­schätzt wurde. Das von den Nobel­preisträgern mit­begün­dete Unternehmen «Long-Term-Cap­i­tal-Man­age­ment» ging bere­its 1998 in Konkurs. Faz­it: Schon zehn Jahre vor der ver­heeren­den «Subprime»-Krise zeich­neten sich Ver­w­er­fun­gen ab, die durch die an sich kor­rek­ten math­e­ma­tis­chen Grund­la­gen nie und nim­mer aufge­fan­gen wer­den kon­nten. Jedoch, die Math­e­matik ging von falschen Voraus­set­zun­gen aus.

Ein Vere­in­heitlichungs­be­streben von immenser Trag­weite, ver­standen als Wel­terk­lärungsmod­ell, zeich­nete sich in er Physik ab, ging es doch darum, die 1916 von Albert Ein­stein for­mulierte All­ge­meine Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie mit der Quan­ten­mechanik in Ein­klang zu brin­gen.

In ein­er Welt auseinan­der­streben­der Energien, ist der Kampf um die soge­nan­nte «Welt­formel», also jene, die alles erk­lärt und alle Wider­sprüche vere­int, voll ent­bran­nt. Lee Smolin (*1955), Leit­er des kanadis­chen «Perime­ter Insti­tute for The­o­ret­i­cal Physics», berichtet darüber in seinem Buch «Die Zukun­ft der Physik – Prob­leme der Stringth­e­o­rie und wie es weit­erge­ht».

Ver­suchen wir kurz das Prob­lem zu schildern: Ein­steins All­ge­meine Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie beschreibt Raum, Zeit, Bewe­gung und Grav­i­ta­tion. Grav­i­ta­tion und Bewe­gung sind eng mit der Geome­trie von Raum und Zeit ver­bun­den, dahinge­hend, dass die Raumzeit-Geome­trie sich mit der Zeit verän­dert. Mit Ein­stein schauen wir in das Uni­ver­sum. Mit der Quan­ten­mechanik – ab 1925 mit Wern­er Schrödinger, Nils Bohr, Wern­er Heisen­berg und Louis de Broglie – tauchen wir in den sub­atomaren Bere­ich. Dort kön­nen Grav­i­ta­tion­sprob­leme und Zeit ver­nach­läs­sigt wer­den. Isolieren wir ein Teilchen aus ein­er Welle bzw. messen es, kön­nen wir nicht gle­ichzeit­ig Aufen­thalt und Impuls bes­tim­men. Bei­de Bere­iche kom­men nicht zusam­men, weil sich Teilchen und Wellen im sub­atomaren Bere­ich anders ver­hal­ten als Galax­ien, deren Licht wir beobacht­en kön­nen. – Anders aus­ge­drückt: Die Unschär­fer­e­la­tion besagt, dass wir nicht den genauen Aufen­thalt­sort eines Teilchens bes­tim­men kön­nen, wenn wir seine genaue Geschwindigkeit ermit­teln möcht­en; und umgekehrt kön­nen wir nicht die genaue Geschwindigkeit eines Teilchens messen, wenn wir seinen genauen Aufen­thalt­sort ermit­teln wollen.

Einen ersten Schritt zur Vere­in­heitlichung hat Richard Feyn­man Anfang der 1970er Jahre mit der «Grand Uni­fied The­o­ry (GUT)» geschaf­fen, indem er 12 Teilchen und vier Kräfte im Stan­dard­mod­ell der Teilchen­physik for­muliert hat, allerd­ings ohne Berück­sich­ti­gung von Grav­i­ta­tion und Zeit. Erschw­erend sind 1998 die dun­kle Energie und die schwarze Materie hinzugekom­men. Die dun­kle Energie beschle­u­nigt die Expan­sion des Uni­ver­sums, die schwarze Materie – schwarz, weil sie kein Licht emit­tiert – befind­et sich inner­halb von Galax­ien, müsste eigentlich auf­grund ihrer Aus­maße die Expan­sion brem­sen. Der lan­gen Rede kurz­er Sinn: Wenn wir alle sicht­baren Galax­ien und Radio­quellen zusam­men­fassen, macht das 4% des Uni­ver­sums aus. 70% der Materiedichte scheint in Gestalt der dun­klen Energie vorzuliegen, 26% wären schwarze Materie.

Mit dem Ziel, eine Welt­formel zu schaf­fen, entwick­elt sich die Super­string-The­o­rie. 1984 fand die erste große Kon­ferenz statt, elf Jahre später die zweite. Die The­o­rie hat­te enor­men Zulauf, und wie Lee Smolin verärg­ert fest­stellt, zog sie eine Unmenge von Forschungs­geldern an sich. Mit der String-The­o­rie ergab sich die Möglichkeit ein­er Quan­ten­the­o­rie der Grav­i­ta­tion. Das Ver­rück­te an der Geschichte ist, dass es sich bei der Super­string-The­o­rie um eine hochkom­plizierte Math­e­matik han­delt, die sich nicht exper­i­mentell über­prüfen lässt. Erfolg und Strin­genz der exper­i­mentellen Über­prüf­barkeit zeigt sich am Beispiel ein­er erst kür­zlich erfol­gten Bestä­ti­gung von Ein­steins Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie. Am 10. Mai 2009 ent­deck­ten Forsch­er einen zwei Sekun­den lan­gen Gam­mas­trahle­naus­bruch in ein­er 7,3 Mil­liar­den Licht­jahre ent­fer­n­ten Galax­ie. Gemäß Annah­men soll­ten sich die hoch­en­er­getis­chen Strahlen etwas langsamer aus­bre­it­en als die niederen­er­getis­chen. Der Grund beste­ht darin, dass die kürz­eren Wellen­län­gen der hoch­en­er­getis­chen Strahlen die Unregelmäßigkeit­en der Raumzeit stärk­er zu spüren bekom­men als die niederen­er­getis­chen, deren Licht mit größer­er Wellen­länge über die Uneben­heit­en der Raumzeit hin­we­grast. – Das Resul­tat war verblüf­fend, set­zte die Annah­men schachmatt. Die hoch­en­er­getis­chen Gam­mas­trahlen waren auf eine Dis­tanz von 7,3 Mil­liar­den Licht­jahren nur 0,9 Sekun­den langsamer. Faz­it im Sinne Ein­steins: Die Zeitverzögerung schließt eine Abhängigkeit der Licht­geschwindigkeit von Energie weit­ge­hend aus.

Zurück zur exper­i­mentell nicht über­prüf­baren Stringth­e­o­rie. Schon bald entwick­el­ten sich mit bis zu zehn Raumdi­men­sio­nen aus der einen nun­mehr fünf The­o­rien, die alle endlich sind, das heißt, dass nur endliche Zahlen vorkom­men, was uner­lässlich ist. (Nachvol­lziehbar für jeden sind vier Raumdi­men­sio­nen, wenn man die Zeit hinzu­nimmt.)

Ich zitiere den Quan­ten­physik­er Mar­tin Bojowald (*1973), der es so schön und ver­ständlich sagt: «Durch Zurück­führen aller Erschei­n­un­gen der Ele­men­tarteilchen­physik auf ein einziges Objekt [sprich: String/Saite] ver­spricht die String-The­o­rie die bekan­nten Kräfte, neben Grav­i­ta­tion und Elek­tro­mag­net­ismus, also die starke und die schwache Wech­sel­wirkung, zu ein­er einzi­gen Kraft­formel zu vere­ini­gen. Es gäbe dann nicht unter­schiedliche Konzepte wie die Raum-Zeit als Trägerin der Grav­i­ta­tion­skraft und das elek­tro­mag­netis­che Feld als Träger der elek­trischen Kraft, son­dern ein einziges Objekt, aus dessen Schwingun­gen alle Kräfte sowie die Materi­eteilchen, auf die diese wirken, her­vorge­hen sollen. Dieses Objekt in ele­mentar­er Form ist eben der namengebende String. […] Hier gibt es kein Orch­ester von unter­schiedlich aufges­pan­nten Sait­en, son­dern nur die Solistin der String-The­o­rie selb­st. Wie sich nach langer Forschung her­aus­gestellt hat, sind näm­lich alle möglichen Auf­stel­lun­gen der fun­da­men­tal­en Strings math­e­ma­tisch miteinan­der ver­wandt. Unter­schiedliche Klang­far­ben ergeben dann keine unter­schiedliche Physik, son­dern sind nur ver­schiedenar­tige math­e­ma­tis­che Sichtweisen auf dieselbe Physik.»

Die ursprünglich fünf Super­string-The­o­rien haben mit­tler­weile 10’500 Par­al­lelu­ni­versen geboren. Das sind eine Eins und 500 Nullen. Man spricht von «Land­schaften», «Pop­u­la­tio­nen von Uni­versen» oder «Kom­pak­ti­fizierun­gen». Kein­er weiß, wie es weit­erge­hen soll. Man darf nicht vergessen, dass die Math­e­matik einen hohen Grad an Schlüs­sigkeit besitzt, und dass die Forderung nach ein­er exper­i­mentellen, sagen wir mal, wirk­lichkeit­sna­hen Über­prü­fung illu­sorisch ist, weil die Möglichkeit­en der­art vielfältig sind, dass man sich mit einem völ­lig neuen Welt­bild abfind­en muss. Die angestrebte Vere­in­heitlichung zur «Welt­formel» ist zur Obses­sion gewor­den.

Weshalb spreche ich von solchen Din­gen? Weil ich der Überzeu­gung bin, dass wir den Kos­mos in uns tra­gen, bzw. Teil dieses Kos­mos sind. Vielle­icht gibt es keine «Welt­formel». So wie jed­er einzelne der 6,5 Mil­liar­den Men­schen auf diesem Plan­eten durch eine DNA-Analyse iden­ti­fiziert wer­den kann, so muss vielle­icht jedes dieser 10’500 Uni­versen einzeln iden­ti­fiziert wer­den. Ein Alb­traum, geht es doch in der Inten­tion um eine ein­fache Formel, etwa im Sinne von Ein­steins «e = mc2» (Energie = Masse x Geschwindigkeit im Quadrat). Vielle­icht gle­icht die Suche nach der «Welt­formel» der Suche nach dem Gral.

Vielle­icht sind die Vere­in­heitlichungs­be­stre­bun­gen eine der Utopie zugrunde liegende Tele­olo­gie, also im Voraus bes­timmte ide­ale Endzustände. Der Turm­bau zu Babel war auch so eine Utopie von Vere­in­heitlichung, von einem got­tähn­lichen Streben nach dem Ganzen geprägt. Aber da spielte Gott nicht mit, schuf die Sprachver­wirrung, und somit die kul­turelle und eth­nis­che Vielfalt. Der Physik­er wird keine Ein­wände erheben. Haupt­sache, dass sich alle Beson­der­heit­en dem größten gemein­schaftlichen Nen­ner unterord­nen. Dass die Natur ein Ganzes ist, daran ist wohl kaum zu zweifeln, aber möglich ist, dass in einem unendlichen Tiefen­raum die Materie sich der­art anders ver­hält, dass diese – und das ist das Entschei­dende – nicht mehr for­mal­isier­bar ist, bzw. anderen Geset­zen gehorcht. Deshalb gefällt mir der Alb­traum der Physik­er, sich mit 10’500 «Land­schaften» beschäfti­gen zu müssen, weil dieser Alb­traum der Natur so nahe kommt. Betra­cht­en wir das men­schliche Hirn. Es ist ein Kos­mos. Man­fred Frank, Pro­fes­sor für Philoso­phie in Tübin­gen, sagt dezi­diert, dass es den Neu­rowis­senschaftlern «nie gelin­gen wird, Geist oder Seele auf neu­ronale Prozesse zurück­zuführen.» In seinem 2008 erschiene­nen Buch «Das Gehirn – ein Beziehung­sor­gan» argu­men­tiert der Psy­chi­ater und Philosoph Thomas Fuchs in die gle­iche Rich­tung, dahinge­hend, dass die neu­ronalen Muster zwar dem natur­wis­senschaftlichen Kausalzusam­men­hang unter­liegen, zugle­ich aber «ein­er über­ge­ord­neten Bes­tim­mung durch nicht physikalis­che Funk­tions- und Bedeu­tungszusam­men­hänge gehorchen, ins­beson­dere durch die indi­vidu­elle Lerngeschichte des Lebe­we­sens, die sich in seinem leib­lichen, seel­is­chen und geisti­gen Ver­mö­gen niedergeschla­gen hat.»

Jedes Hirn wäre dann wie eines der schi­er unendlich vie­len String-Uni­versen. […]

Galerie Rigas­si
Mün­ster­gasse 62; 3011 Bern
Infos: www.rigassi.ch

Foto: zVg.
ensuite,  August 2012