Von Luca D’Alessandro — Vor genau zwei Jahren hat Heinrich Müller das Fernsehstudio gegen die Musikbühne getauscht. Diesen Schritt habe er nie bereut, sagt er, «nach über zwanzig Jahren im Dienste der Tagesschau verspürte ich das Bedürfnis, meiner Leidenschaft nachzugehen: dem Songwriting.» Damit hat sich Müller einen Traum erfüllt, den er heute mit Herzblut lebt. Sein Repertoire füllt drei Alben, das letzte ist am 17. April beim Berner Label Sound Service vom Stapel gelaufen. Als Arrangeur hat er sich den in Nashville lebenden Erfolgsproduzenten Tim Hinkley ausgesucht. Auf ihn schwören die Rolling Stones, Eric Clapton und Johnny Halliday.
Die Liedtexte auf den drei Alben stammen aus «Heiris» Feder und sind Spiegelbild seines etappenreichen Lebens: In jungen Jahren war er als Globetrotter unterwegs, später widmete er sich dem Jurastudium, kam zur Tagesschau des Schweizer Fernsehens und landete schliesslich bei der Musik. Heinrich Müller wartet nicht: Er setzt um, was er fühlt. Er hört auf die innere Stimme, die ihn – so scheint es – bis heute stets gut beraten hat.
Bleibt er jetzt bei der Musik, oder hat er bereits ein anderes Etappenziel vor Augen? «Wer weiss?» ensuite — kulturmagazin liess sich mit dieser Antwort nicht abspeisen und hat Heinrich Müller auf ein Interview eingeladen.
ensuite — kulturmagazin: Heinrich Müller, das aktuelle Album ist in Zusammenarbeit mit dem Starproduzenten Tim Hinkley entstanden. Welche Rolle wurde ihm zuteil?
Heinrich Müller: Tim war der Produzent in diesem Projekt. Er hat viel Erfahrung in diesen Dingen, zumal er auch selber Musik macht. In den 1960ern und 1970ern war er ein bekannter Rockmusiker.
Heute jedoch ist Tim Hinkley als Songwriter bekannt. Inwiefern hat er Sie beeinflusst?
Sein Einfluss war begrenzt. Ich habe ihm die fertiggestellten Lieder gegeben mit dem Auftrag, die Arrangements umzusetzen. Natürlich machte er auch Vorschläge und gab mir den einen oder anderen Rat. Manchmal stritten wir uns, weil er mir eine Idee aufbrummen wollte, die meinen Vorstellungen nicht entsprach. Die Zusammenarbeit mit Tim lief so, wie sie unter Musikern und Arrangeuren sein muss: freundschaftlich, professionell und ehrlich.
Teile der Produktion haben Sie in die Westschweiz verlegt: Die Aufnahmen haben in den Relief Studios in Freiburg stattgefunden.
Ja, in den Relief Studios, dessen Besitzer Dom Torche mir wertvolle Inputs gegeben hat. Er hat spannende Akzente hineingebracht: Mehr Zug. Das hat mir sehr entsprochen, zumal ich «Schleimmusik» nicht ausstehen kann.
Was ist für Sie «Schleimmusik»?
Wenn sich in einem Album immer dieselben Elemente wiederholen. Wenn der Computer den Song zu schreiben scheint. Wenn der stimmliche Ausdruck des Sängers immer gleich tönt. Ich mag es, wenn ein Album differenziert klingt. Es soll kräftig sein, authentisch wirken und persönlich.
Tatsächlich ist Ihr Album, was die Stile angeht, breit gefächert. Konnten Sie sich vielleicht deshalb nicht für einen Albumtitel entscheiden?
Diesem dritten Album habe ich bewusst keinen Titel gegeben. Beim Durchstöbern meiner Schallplatten habe ich festgestellt, dass Plattentitel manchmal komisch, ja ganz absurd klingen und über den Inhalt der LP nichts aussagen. Aus den meisten Titeln wurde ich nicht schlau. Um nicht selber einen widersinnigen Namen zu erfinden, habe ich das Cover lediglich mit meinem Vor- und Nachnamen versehen. Weshalb muss man allem einen Titel geben? Die CD enthält zwölf Lieder, die sowohl ins Rock‑, Blues‑, Country- oder Soulschema passen könnten. Eine solche Mixtur ist schwer unter einem Begriff zusammenzufassen.
Die Genres mögen verschieden sein, trotzdem dreht sich alles um die menschliche Stimme.
Das darf ich nicht allzu laut zugeben, sonst verärgere ich meine Band. (lacht) Der Gesang verkörpert die Schönheit und die Harmonie. «The Girls from the Shebshi Hills» – ein Lied, das von meinen Erfahrungen spricht, die ich während meiner Reisen durch Afrika gemacht habe – ist unter Beteiligung eines Chores aus Angola entstanden, der Kuziem Singers. Es war mir ein Anliegen, sie im Album unterzubringen.
Weshalb diese Vorliebe für den Chorgesang?
Ich bin in einer Pfarrerfamilie aufgewachsen und hatte es schon früh mit Chören, gelegentlich auch mit Gospelchören, zu tun. Später, als junger Mann, bereiste ich regelmässig die Südstaaten Amerikas, wo ich mit der afroamerikanischen Bevölkerung, mit der Kultur des Blues und des Soul in Berührung kam und den Gospel intensiv erleben durfte. Für mich war schon bald klar, dass die Wurzel der Musik in Afrika liegen muss. Diese Einsicht prägt noch heute mein Leben als Liedermacher.
Die Liedtexte sind einfach gehalten. Ist das Absicht?
Ja. Ich liebe es gar nicht, wenn mir in den Liedern ein psychologischer Brei vorgesetzt wird. In der Musik habe ich mir vorgenommen, einfach zu formulieren. Mich auf Gefühle zu konzentrieren. Einfache, verständliche Gefühle, die von jeder und jedem auf ganz persönliche Weise verstanden werden können. Das heisst aber nicht, dass die Texte banal sein müssen. Während meiner Zeit als Moderator der Tagesschau habe ich gelernt, komplexe Inhalte so zusammenzufassen, dass sie von den Zuschauern verstanden werden können. Vordergründig schienen die Texte einfach. Die Zusammenhänge im Hintergrund waren es meist nicht. Bei den Inhalten meiner Lieder verhält es sich ähnlich. Sie sind vordergründig einfach, beziehen sich auf das alltägliche Leben, reden von Liebe und Abschied. Aber dahinter versteckt sich vieles; das Verhältnis zu uns selbst, das Verhältnis zwischen Menschen, das Verhältnis zur Natur, etc. Ein Song bringt es auf seine spielerische Art auf den Punkt.
Der Song «Man of the News» zum Beispiel könnte mit Ihrer Vergangenheit als Journalist in Verbindung gebracht werden. Diese These ist aber scheinbar zu einfach.
Ja, «Man of the News» ist keine Autobiografie. Zwar kann der Song stückweise etwas mit mir zu tun haben, er kann aber auch auf andere Moderatoren projiziert werden.
Wen besingen Sie in Ihrem Liebeslied?
«Miis Liebeslied» habe ich niemandem gewidmet. Ich habe es von Herzen geschrieben, weil mir in dem Moment danach war. Einzig die erste Zeile «Uf em Tschuttiplatz han ech Si geseh», bezieht sich auf meine Frau Ruth. Sie habe ich auf einem Fussballplatz kennengelernt. Alle anderen Zeilen könnten in einem beliebigen Liebeslied stehen. Übrigens ist das nicht mein einziges Liebeslied auf diesem Album.
«Hardbridge» zum Beispiel könnte auch als Liebeslied durchgehen. Welchen Bezug haben Sie zur Zürcher Hardbrücke?
Auf ihr habe ich an so manchem Wintermorgen auf den Zug gewartet, der mich Richtung Fernsehstudio brachte. Ich habe viele Erinnerungen an diese Zeit. «Hardbridge» habe ich dieser Phase meines Lebens gewidmet und dem Ort, der gemeinhin als kalt empfunden wird und optisch nicht schön ist – trotzdem fühle ich mich wohl da.
Auf der neuen CD befinden sich mit «Miis Liebeslied» und «So Wies Isch» erstmals zwei Lieder in Mundart. «Hardbridge» dagegen ist Englisch. Wieso haben Sie dieses «Schweizer Thema» nicht auch in Mundart getextet?
Die Sprachwahl habe ich bei der Komposition des Liedes so gewählt, wie ich es in dem Moment für richtig hielt. Ich arbeite nach Instinkt, die Sprachwahl ist dabei sekundär. Weshalb ich mal Englisch, mal Mundart wähle, hängt von der Situation ab, in der ich mich jeweils befinde. Ich bin ein Mensch, der mit der Welt lebt und sich an vielen Orten wohl fühlt.
Wie werden Sie als Schweizer Musiker im Ausland wahrgenommen?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da ich mich im Ausland noch nicht umgehört habe. Mir ist keine europäische oder amerikanische Radiostation bekannt, die eines meiner Lieder spontan abgespielt und kommentiert hätte. So betrachtet kann ich nicht beurteilen, wie ich im Ausland wahrgenommen werde. Einen Anhaltspunkt habe ich aber trotzdem: Als ich 2004 in Nashville meine erste Platte aufnahm, waren die Kollegen im Studio begeistert von den Liedern. Sie sagten es nicht aus Höflichkeit, sie waren ehrlich. Und das hat mich sehr gefreut und in meiner Arbeit bestärkt.
Seit Ende Ihrer beruflichen Karriere als Nachrichtensprecher beim Schweizer Fernsehen haben Sie gleich zwei Alben publiziert. Von Aussen betrachtet scheint es, als hätte sich viel Energie in Ihnen gestaut. Hatten Sie in den letzten Jahren beim Fernsehen dermassen genug vom Journalistenberuf, dass Sie es kaum erwarten konnten, endlich Musik zu machen?
Eine interessante Beobachtung, die ich nur bedingt bejahen kann. Ich habe schon immer nach meinem Instinkt gehandelt. Bereits in den Siebzigern, als ich mein Doktorat in Rechtswissenschaften abgeschlossen hatte, stellte ich mir die Frage, ob ich mich tatsächlich bis an mein Lebensende in ein Büro verkriechen wolle. «Nein», sagte die innere Stimme, und ich machte mich auf nach Afrika. Ich packte meinen Rucksack, ging auf ein Frachtschiff und erkundete den Kontinent. Nach meiner Rückkehr kam ich zum Fernsehen, wo ich mehr als zwanzig Jahre blieb. In den letzten Jahren überkam mich das gleiche Gefühl wie schon damals nach dem Studium. Obwohl ich meiner Arbeit beim Fernsehen mit Hingabe und Freude nachging, wurde der Ruf der Musik immer lauter. Ich konnte ihn nicht mehr ignorieren, weshalb ich am Ende meine Tätigkeit bei SF1 aufgab. Niemand wollte mich gehen lassen. Der Ablösungsprozess fiel mir schwer. Heute bin ich froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe.
Kann es sein, dass Sie in zehn Jahren erneut Ihrer Stimme folgen und womöglich die Musik aufgeben werden?
Ich bin noch voller Träume. Allerdings werde auch ich immer älter und kann schnelle Wechsel nicht mehr so rasch einstecken. Es kostet mich immer sehr viel Kraft und Energie. Energie, die ich in meiner Musik finde, deshalb ist es gegenwärtig nicht vorstellbar, dass mir meine innere Stimme einen anderen Weg suggeriert. Darüber hinaus begeistert es mich immer wieder, wenn ich vor Publikum stehe und meine Lieder spielen darf.
Am Schweizer Fernsehen hatten Sie täglich Publikum – ein riesiges sogar.
Ja, das schon, aber es war doch irgendwie anders. Denn das Publikum hinter der Kamera konnte mich zwar sehen, ich jedoch das Publikum nicht. Die Interaktion fand nur auf einer sekundären Ebene statt, per E‑Mail oder Briefe. Auch konnte ich mich nie vergewissern, ob die Leute zu Hause meine Botschaft überhaupt verstehen würden. Auf der Bühne ist das ganz anders: Zwar stehe ich nicht vor einer Million Menschen, trotzdem steigt das Adrenalin immer wieder an. Der Lohn ist das Publikum, das mir seinen Applaus schenkt, wenn ihm die Performance gefällt. Ein ungeheures Gefühl, das ich früher in der Art nie verspürt habe.
Info: www.heinrichmueller.ch
Foto: Bruno Toricelli
ensuite, Juni/Juli 2009