Von Peter J. Betts — Vielleicht fällt es Ihnen gar nicht (mehr) auf: eine Sprechmode bezüglich Satzmelodie und Sprechtempo ist zur gültigen Alltagsrealität geworden und wird in wohl absehbarer Zeit zur formal bestimmenden Norm. www lässt grüssen. Mit der Kommunikation haben wir heute alle auch ein zeitkonformes Problem. Hier also eine neue Sprechmode, die politisch und werbetechnisch bestens nutzbar ist: Ritt über den Bodensee. Die neue Sprechkultur als politisch nutzbare Gussform für das pflegeleichte und zunehmend leicht manipulierbare Stimmvolk? Eine klare, einfache, bejahende (und auch eine verneinende) Aussage wurde zumindest bisher «auf Punkt gesprochen». Etwas weniger krass gilt das auch für Aufforderungen oder Anweisungen. Die Pause nach dem Punkt kann genutzt werden zu bedenken, was man als Nächstes sagen möchte oder sollte. Die Pause erlaubt ausserdem Zuhörenden, das eben Gesagte zu überdenken, sich auf die nächsten Aussagen geistig vorzubereiten. Voraussetzung: am Ende des Satzes senkt sich die Stimme. Im Gegensatz zu Fragesätzen: dort hebt sich die Stimme am Satzende, vor dem Fragezeichen. Das deutet – wie bei einer ernsthaften (oder auch spielerischen) Frage eigentlich anzunehmen wäre – darauf hin, dass die sprechende Person die Antwort nicht kennt, oder sie wenigstens nicht vorwegnehmen will, also die angesprochene Person (vielleicht auch das nur spielerisch) als Partnerin oder Partner des Dialoges ernst nimmt. Auch hier erfolgt die Sprechpause. Die neue Sprechmode ist erst zögerlich, dann epidemisch ausgebrochen: vor allem die Damen an den Mikrophonen (auch immer mehr Herren) heben nach affirmativen Sätzen vor dem Punkt die Stimme und schwafeln ohne Pause gleich hektisch und hektischer weiter. Ritt über den Bodensee. Jedes erneute Stimmerheben bedeutet: Satzende? Markieren eines abgeschlossenen «Gedankens»? Und das hektische Sprechtempo sollte wohl die ungeheure Effizienz, Produktivität und makellose Kompetenz der Sprechenden suggerieren; ihre Fähigkeit, mindestens so rasch wie ein Grosscomputer zu «denken», aber keineswegs nur auf binäre Impulse reduziert, sondern höchst komplex. Sprechendes Denken ist definitiv nicht mehr gefragt. Sendezeit ist knapp. Zeit ist Geld. Geld ist alles. Oder soll die atemlose Hast die Unsicherheit bezüglich der eben gemachten Antwort hervorstreichen? Das könnte auf die Fähigkeit des sich selbst Hinterfragens hindeuten, was ich den meisten Menschen vor Mikrophonen eigentlich nicht unterschieben möchte. Oder soll die Hast vor dem Mikrophon verdecken, dass bei Fragen wie bei bejahenden Aussagen bei den Sprechenden die gleiche Ungewissheit herrscht. Opium für das Volk? Alle Aussagen verkommen zu verdeckten Fragen. Jede Behauptung ist fraglich – fragwürdig. Das klänge beinahe weise und auf weise Weise bescheiden: Ungewissheit regiert tatsächlich die Welt. Aber dass das für mich, den Sprechenden, auch als anzustrebendes Strickmuster zu gelten hat; so offensichtlich, so unzweifelhaft hörbar die Unsicherheit allem gegenüber demonstrieren zu müssen? Diese Ungewissheit auch gleich zugeben? Wenn ich Politiker bin? Sicher nicht: wenn ich Pech habe, wird vor den nächsten Wahlen die Geschäftsprüfungskommission meine Überforderung wahlstrategisch ummünzen; aber diese Wahrscheinlichkeit ist verschwindend gering, warten wir es ab. Wenn ich Experte bin? Sicher nicht, ich würde meine eigene Existenzquelle abgraben. Als Moderator? Vielleicht: ein Umweg, Vertrauen in die Dialogpartner zu simulieren, etwa um ihnen zu entlocken, was sie an sich nicht so bedenkenlos preisgäben. Ich denke, die zeitgemässe Sprechmode ist zunehmend schon in sich selbst Ritt über den Bodensee. Sprechen bedeutet wohl nach wie vor Ausdruck des seelisch-geistigen Zustandes der sprechenden Person und – kommt es unwidersprochen so an – der Zuhörenden. Es ist Zeichen der zeitgemäs-sen Kommunikationskultur. Da niemand über das zu Sagende oder das Gesagte nachzudenken braucht, und es aus Zeitgründen auch gar nicht tun könnte, ist es Austausch von Unverbindlichkeit zwischen Sprechenden und Hörenden, im Wechselspiel. Kultur der Leere. Allerdings ist es ein totaler Gegensatz zu Yves Kleins gegen Gold verkaufte Quadratmeter imaginärer Leere. Klein veräppelte keineswegs die Käufer seines Werkes, die nach dem Kauf mit leeren Händen und um einige hundert Gramm Gold erleichtert, von der Seine-Brücke, wo der Austausch – also der Kauf / Verkauf – stattgefunden hatte, nach Hause schritten. Klein hatte ihnen das Selbstvertrauen (gegen ihr Goldgeschenk an ihn und die Seine) geschenkt, ein leeres imaginäres Quadrat von einem Meter Seitenlänge an einem beliebigen Ort vor das innere Auge zu zaubern, es mit den eigenen inneren Bildern zu füllen. Er hatte jedem Käufer, jeder Käuferin das Wissen geschenkt, Künstlerin oder Künstler sein zu können, rein schon dadurch, dass sie oder er den eigenen Bildern im imaginären Raum Leben einhauchte und sich die Zeit nahm, dies im inneren Dialog mit sich selbst auch zu tun. Ist es nicht die Grundherausforderung jedes Malers, eine leere weisse Leinwand auf der Staffelei in ein Bild zu verwandeln, das seinerseits die Betrachtenden heraufordert, ihre eigenen Bilder daraus zu lesen? Wie entlockt ein Dichter einem weissen Blatt das noch unsichtbare Gedicht, das in den Lesenden eine adäquate Resonanz erzeugt? Die heute überhandnehmende Sprechkultur wird nicht einfach von Ungebildeten vorangetrieben, nicht von den Industriebossen oder den Politkoryphäen. Wenn aber ein Musikmoderator in DRS 2 den Namen des bedeutenden Barockkomponisten Henry Purcell auf der letzten Silbe betont, hat er wohl nicht gewusst, dass im Deutschen (wie im Englischen) in der Regel Erstbetonung gilt. Er macht unabsichtlich aus dem armen Komponisten einen ‚purr cell’, also einen, der in der (Gefängnis)zelle schnurrt – kein Wortspiel, schon nur wegen der Ungebildetheit dieses Moderators. (Ungebildet ist er nicht, weil er nicht Englisch sprechen, sondern weil er nicht zuhören kann und vielleicht ausserdem versucht, sich modebewusst mit fremden Federn zu schmücken und sich bei seiner Kundschaft so anzubiedern.) Wie ungebildet er ist, zeigt er kurz darauf, als sein Gesprächspartner einen heute eher unbekannteren Barockkomponisten vorstellt und dessen damalige Absicht erläutert, statt Grabenkämpfen einen Einklang zwischen französischem, englischem, italienischem und deutschem Barock zu suchen; er tut dies, indem er den deutschen Originaltext (aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert, also durchaus auch heute verständlich, falls man hinhört) vorliest, und zwar, ohne bei jedem Satzende die Stimme zu heben. Der Moderator lacht etwas aufgesetzt. «Ja, das klingt schon sehr Altdeutsch», sagt er, «Was will uns der gute Mann eigentlich sagen?» Wenn der Moderator so weiterfährt, wird aus «Churchill» bald einmal «curch ill» wobei wir auch wieder beim Thema wären: auch die Kirche hat ein Problem mit der Kommunikation, und «ill» sind wir bei bester Gesundheit zunehmend alle… Der Schriftsteller Martin R. Dean schreibt in der NZZ vom 4. Dezember 2010: «…Etwas verallgemeinernd könnte man sagen, dass durch den Wegfall von Unterscheidungsmerkmalen die im Netz aufscheinende Welt unwirklicher, fiktiver, eigentlich ‚transrealer’ geworden ist. Vieles hat transitorischen Charakter, weshalb man das Worldwideweb, anders als ein Lexikon, nie richtig zuklappen kann. Das angebotene Wissen hat seine Quellen, oft auch die Spuren seiner Herkunft verloren. Die Fülle der Bilder lässt uns erblinden, die Fülle des Materials gibt uns kein Gewicht mehr, die Fülle von Informationen macht uns nicht klüger. Der Zauber des Internets besteht in der sekundenschnellen Entzauberung der Welt. Poesie liegt ihm fern, ästhetischer Erkenntnis ist es kaum zuträglich. Der Fortschritt, auf seine technische Dimension reduziert, scheint so unaufhaltsam, dass.…»
Foto: zVg.
ensuite, Januar 2011