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Virgin Tales

Von Son­ja Wenger — Wie wichtig ist Jungfräulichkeit und Keuschheit – vor allem der Frau – in unser­er vorge­blich mod­er­nen Welt? Wie sehr bee­in­flussen diese Werte, die meist religiös ver­brämt sind und mit einem ultra­kon­ser­v­a­tiv­en Gesellschafts­bild Hand in Hand gehen, noch heute das Leben von Mil­lio­nen? Und wer ver­tritt diese Werte mit welchen Meth­o­d­en?

Mit diesen Fra­gen set­zt sich die Schweiz­er Filmemacherin Mir­jam von Arx in ihrem neuen Doku­men­tarfilm «Vir­gin Tales» auseinan­der. Während zwei Jahren begleit­eten sie und ihr nur aus Frauen beste­hen­des Team Pas­tor Randy Wil­son und seine «Vorzeige­fam­i­lie» aus dem US-Bun­desstaat Col­orado, die der Reli­gion­s­ge­mein­schaft der evan­ge­likalen Chris­ten ange­hört. Sie predi­gen lan­desweit Keuschheit und Rein­heit und sind die Erfind­er der «Puri­ty Balls» (Jungfrauen­bälle). Diese Bälle erfreuen sich enor­men Zulaufs und zie­len darauf ab, dass hier Väter mit ihren Töchtern jeden Alters feier­lich zusam­menkom­men, um die Mäd­chen auf ein Keuschheits­gelübde einzuschwören, während die Väter ihrer­seits geloben, ihre Töchter zu respek­tieren und zu schützen.

Von Arx ist dabei ein erstaunlich intimer, unzen­siert­er Blick ins Innere eines Umfelds gelun­gen, das sich anson­sten sehr gezielt gegen die Welt von aussen abschot­tet, in dem die Kinder zuhause unter­richtet wer­den und in dem es für die Mit­glieder der Gemein­schaft kaum Kon­takt mit Ander­s­denk­enden gibt. Der Blick, den von Arx dem Pub­likum dabei ermöglicht, löst stel­len­weise Gänse­haut aus. Gänse­haut, weil man im Laufe der einein­halb­stündi­gen Doku­men­ta­tion eine selt­same Sym­pa­thie für die Fam­i­lien­mit­glieder entwick­eln kann, selb­st wenn man mit jed­er Fas­er seines Wesens deren Weltan­schau­un­gen ablehnt. Gänse­haut auch, weil die evan­ge­likalen Chris­ten nicht nur in den USA zunehmend über grossen poli­tis­chen Ein­fluss ver­fü­gen und ihr reak­tionäres Gedankengut gezielt wieder Einzug hält in den gesellschaftlichen All­t­ag. Die aktuelle Werte­diskus­sion im Rah­men des US-Präsi­dentschaftswahlkampfs um gle­ichgeschlechtliche Ehe oder Geburtenkon­trolle ist nur das sicht­barste Beispiel dafür.

Ger­ade auch in diesen Bere­ichen gel­ten die Wilsons als Vorkämpfer. So begleit­et die Kam­era Patri­arch Wil­son bei seinen Touren als Reli­gion­slob­by­ist durchs Land, seine Fam­i­lie bei Ver­anstal­tun­gen der Kreation­is­ten (jenen vierzig Prozent der US-Bevölkerung, die die Bibel wörtlich nehmen), bei Tre­f­fen unter Gle­ich­gesin­nten, in denen es wieder und wieder um die The­men Keuschheit, Rein­heit und Glauben geht, sowie bei einem Puri­ty Ball. Hinzu kom­men die Ini­ti­a­tion­sriten für zwei Wil­son-Kinder im Teenager­al­ter, wobei der Sohn in ein­er Rit­terz­er­e­monie qua­si zum Mann geschla­gen, und dem Mäd­chen ein­mal mehr die Bedeu­tung der Keuschheit ans Herz gelegt wird. Eine Gehirn­wäsche ist nichts gegen die Kraft der Überzeu­gun­gen, die hier am Werk sind.

Die Nähe und Offen­heit der Pro­tag­o­nis­ten, die von Arx in ihrem Film erre­icht hat, ist seine enorme Stärke – gle­ichzeit­ig jedoch auch seine grösste Schwäche. Die Ver­suche, den Wilsons zu ent­lock­en, wie sie denn darauf reagieren wür­den, wenn sich etwa eines ihrer Kinder gegen ihre Überzeu­gun­gen stellen würde, scheit­ern hoff­nungs­los an der geübten Argu­men­ta­tion und dem uner­schüt­ter­lichen Glauben der Fam­i­lie.

Entsprechend ist es ver­ständlich, dass sich die Regis­seurin für einen rein beobach­t­en­den Sta­tus entsch­ieden hat – oder entschei­den musste. Mit der Folge jedoch, dass man alle Aus­sagen der Wilsons ohne Fil­ter und ohne Hil­fe eines Kom­men­tars erlebt. Bis auf einige einge­blendete Infor­ma­tio­nen bleibt man alleine gelassen auf einem Trip, der sich zwis­chen Dis­ney­land und mit­te­lal­ter­lich­er Inqui­si­tion bewegt, auf dem man gle­ichzeit­ig Sym­pa­thie und Abscheu empfind­en kann, und während dem jedem aufgek­lärten Geist die Haare zu Berge ste­hen wer­den.

Es bleibt deshalb zu hof­fen, dass dieser Film eine Kon­tro­verse aus­löst, die sich gewaschen hat – nicht nur bezüglich der Frage der Keuschheit, son­dern auch bei der Diskus­sion um den Ein­fluss der Reli­gion auf den Staat, die neuen Auftrieb brauchen kön­nte. Der jüng­ste Stre­it in der Schweiz um den Nutzen der Sex­u­alkunde in den Schulen ist nur ein Beispiel davon. Oder wie es von Arx in «Vir­gin Tales» sagt: Eines von acht Mäd­chen in den USA legt ein Keuschheits­gelübde ab. Den­noch ist die Wahrschein­lichkeit, dass es vor der Ehe Sex haben wird, genau­so hoch wie bei anderen Teenagern. Mit dem Unter­schied, dass jene, die das Gelübde abgelegt haben, wesentlich sel­tener Kon­dome oder die Pille benutzen.

«Vir­gin Tales», Schweiz/Deutschland/Frankreich 2012. Regie: Mir­jam von Arx. Länge: 87 Minuten.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2012