Von Dr. Regula Stämpfli — In Politik, Medien, Kunst und Akademie ist Alkohol das Schmiermittel der Karriere: Über das Glück der (Alkohol-)Freiheit.
Während ich diese Zeilen schreibe, fliessen in München über 6 900 000 Liter Bier – bei Getränken ohne Alkohol nur knapp 169200 Liter. Es ist Oktoberfest, das im September 2022 begann und das erste nach zwei Jahren Pause ist.
Ich mag kein Bier und trinke seit der Pandemie überhaupt keinen Alkohol mehr, von einigen Ausnahmen abgesehen, an einer Hand abzählbar. Ausschlag gab der erste Lockdown am 13. März 2020: Meine unbändige Lust, die nachfolgenden Tage jeweils um 11 Uhr morgens mit Champagner auf leeren Magen, gefolgt von einem meiner berühmt-berüchtigten Gin Tonics zu beginnen, war ebenso gross wie meine abgrundtiefe Verzweiflung über dieses Gefühl, eingesperrt zu sein. Dazu kam meine Scham, dass ich auf Luxusniveau litt, während Millionen Menschen durch die Pandemie ins Elend gestürzt wurden und wir alle viele liebe Menschen beerdigen mussten.
Deshalb nahm ich mir die Freiheiten, die mir blieben, und verliess die Abhängigkeit vom Alkohol – Nikotin folgte darauf anstrengungslos. Alkoholfrei sein eröffnete mir ein Leben, neue Lieben, grosse Abenteuer und eine ungeahnte Karriere, die ich in der Träumerei des fast täglichen Rauschs nie erfahren hätte. Dabei meinte ich doch, dass ich als erwachsenes Kind eines Alkoholikers gegen die verheerende psychische Abhängigkeit für immer gefeit sei: Ich schwor mir als Kind, diese Droge nie mehr mein Leben zerstören zu lassen. Bis in die Lebensmitte begegnete ich Alkohol nur vorsichtig: Kater kenne ich nicht und das Kotzen ist mir so fremd wie meiner Katze Hunde.
Doch die Partys wurden länger, der Weisswein mit Gin Tonic als Apéro und einem Grappa nach dem Essen ergänzt, und einige Erlebnisse unter Fellow-Trinkenden, die allesamt davon überzeugt sind, kein Alkoholproblem zu haben, sind etwas schambedeckt. Alk ist DAS Accessoire der vermeintlich Erwachsenen, ein schönes Glas Prosecco verbindet Frauen, die ohne diese Fake-Champagnerlaune eigentlich nicht viel gemeinsam haben. Die Männer der Medienbranche meinen bis heute, Boxen, Stierkampf, Krieg, Abenteuer, Frauen und Saufen würden ihre Seichtschreibe verbessern: Irrtum. Wären sie nur einmal 100 Tage nüchtern, sie würden ihren Kolleginnen das Leben nicht derart erschweren. Meine Jobs, oft bestehend aus Apéros, Messen, Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen, Kunstreisen, sind seit der Alkoholfreiheit glamouröser geworden; mein Kopf ist so klar, dass ich nach den Treffen gut zwei, drei Stunden nachdenken und schreiben kann: ein Riesengeschenk. Die «Mad Men»-Nostalgie mit Zigarre, nun neu auch für Frauen, kittet Medien, Politik, Kunst und Kultur: Die an solchen Abenden geteilten Geheimnisse über verpfuschte Abtreibungen, unglückliche Ehen, schlechten Sex, geheime Geliebte und entfremdete oder keine Kinder hinterlassen indessen Scham der Beteiligten, was erhebliche Komplikationen mit sich bringt. Doch Trinkende fallen nie auf, Abstinente werden sofort einer Inquisition unterzogen. Es ist einfacher, von Burn-out, Impotenz oder Scheidung zu sprechen, als keinen Alkohol zu trinken. Seit meiner Alkoholfreiheit habe ich mir für derartige Anlässe deshalb tausend Tricks angewöhnt, die meinen Nichtkonsum verschleiern: Einen Tropfen Apfelsaft, und das Weissweinglas passt, niemand fragt nach. Hätte ich nicht Stephen Kings «On Writing» gelesen, würde ich auch heute meinen, das Trinken gehöre zum Schreiben, ohne Whisky gebe es keine Bestseller, ohne Wodka keinen Buchpreis – von all den anderen Drogen, die Autoren einwerfen und sich dabei cool finden, ganz zu schweigen.
Ich könnte weiterfahren, doch meine Geschichte gleicht, so ungewöhnlich wir alle doch sind, deren von Millionen von anderen Menschen, deren Leben von Alkohol tangiert war und immer noch ist. Wie der isländische Künstler Jakob Veigar einmal meinte: «Alcoholics are so bloody boring.» Und er meinte damit, wie sehr sich die Wege gleichen, die den Genusstrinker zum Abhängigen machen. Im englischsprachigen Raum ist das Bewusstsein darüber, wie sehr die Alkoholindustrie vom Elend der Konsumierenden profitiert, viel grösser als in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich. Alkoholiker sehen hierzulande immer gleich aus: Das sind die, die sich die Hose vollpissen, auf einer Bank oder unter der Brücke schlafen, mit einer leeren Wodkaflasche in der Hand und blutunterlaufenen Augen im zerfurchten Gesicht. Alkoholiker sind nur diese elenden Kreaturen, die physischen und psychischen Aussenseiter, nicht diese coolen Typen mit dem «shaken not stirred» in der Hand. Mein Lieblingsphilosoph Robert Pfaller plädiert vehement für den Rausch, ohne gleichzeitig den «Menschen als Konsum» (Zygmunt Bauman) im 21. Jahrhundert ins Auge zu fassen. Denn der Mensch im 21. Jahrhundert hat nichts mehr mit dem archaisch-dionysisch spirituellen, naturverbundenen Bewegungs-Sapiens der griechischen Klassik zu tun, sondern gleicht eher einer Konsumbatterie, die nur dank Tropf, gefüllt mit Drogen aller Art – auch Game‑, Sex- und Esssucht gehören dazu –, überleben kann.
Zum Glück gibt es die USA! Dort ist die Romantik des Genusstrinkers versus den zutiefst kranken Alk-Pisser unter der Brücke schon längst durchbrochen. Die Anonymen Alkoholiker AA sind eine wichtige politische und spirituelle Gruppe, perfekt auf männliche Bedürfnisse der Abhängigen ausgerichtet. Es ist ein Hardcore-Programm, sehr christlich-protestantisch, sehr machohaft, doch alle untersten und obersten Etagen der Gesellschaft verbindend und als Programm, als spirituelle Erneuerung und Stabilisierung des Selbst sehr effektiv. Wer mehr darüber erfahren will, soll doch in den Podcast des Isländers Jakob Veigar auf «Art Is a Piece of Cake» reinhören. Er erzählt eindrücklich, wie AA nicht nur sein Leben, sondern auch seine Kunst befreit hat.
Für Frauen gibt es mittlerweile andere Programme als nur die AA, was sehr gut und wichtig ist. AA will ich nach wie vor allen empfehlen, die in Beziehungen zu Alk-Abhängigen stehen, doch für Frauen mit Alkoholthema gibt es andere Institutionen. Abhängige Frauen jeglicher Couleur haben eine ganz eigene Sprache gefunden und erzählen andere Geschichten, beispielsweise in «Sober Curious» von Ruby Warrington oder «Soberful» von Veronica Valli. Es gibt mittlerweile Hunderte von grandiosen TED-Talks zum Thema: Sie helfen Abhängigen aller Art, ihr Leben in Meditation, Sport, Lust, Kultur und auch zur politischen Befreiung zu führen. Johann Haris TED-Talk und Buch «Connection», auf Deutsch «Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen» bspw. sind der Hammer. Haris Erkenntnis, dass das Gegenteil von «Addiction» eben «Connection», Beziehung, Resonanz und das Miteinander unter Menschen, sei, birgt auch politische Erneuerung.
Alkohol, Drogen, Sexsucht, Essstörungen führen bei Individuen zu grossen Traumata, die nicht zuletzt gesellschaftspolitische solche werden. Abhängige Menschen sind auf sich zurückgeworfen, die Bindungen zur Welt sind durch die Konzentration auf sich selbst und die entsprechende Droge fragmentiert und damit gestört: mit grossen kulturellen und gesellschaftlichen Folgen. Abhängigkeiten konstruieren unendlich viele dysfunktionale Systeme: Familien, Freundschaften und auch die Politik.
Meine Alkoholfreiheit brachte mir einen neuen Körper, frisches Aussehen, Poesie, Inspiration, ein umwerfendes Leben, für das ich jeden Tag demütig danke. Mir haben viele Bücher, Talks und Helpgroups online geholfen, hier ein paar Literaturtipps zum Einstieg und ein ganz persönlicher Rat: Hundert Tage sind der Anfang. Bei mir begann es mit hundert Tagen, die durch zweimal hundert Tage ergänzt wurden mit der Erkenntnis, dass meine nächsten dreissig Jahre nicht mehr durch «Spirit», sondern durch echten Geist beflügelt werden.
Zurück zum Oktoberfest 2022. Dies liegt in den letzten Zügen, wenn Sie diese Zeilen lesen. Wie wäre es doch schön, wenn wir einmal jährlich fröhlich, mit Stil, safe, divers, tolerant und lachend gemeinsam Rausch, Orgie und Freude feiern könnten – und nicht so, wie es momentan viel zu oft ist: ein Millionen-Massenbesäufnis mit ganz vielen Abstürzen, Gewaltexzessen und Übergriffen, die viel zu viele Menschen verletzen. Alkoholfreiheit ermöglicht: erotisch-poetische, volkstümliche Begegnungen mit dem anderen und der Welt ausserhalb des Hochprozentigen – so einen Rausch haben Sie sicherlich noch nie erlebt.
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Daniel Schreiber: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück. Das war im deutschsprachigen Raum ein Erstling, der die Geschichte der Alkoholabhängigkeit ganz anders als üblich erzählte. Der Autor gibt zum Buch keine Interviews mehr. Das Buch selber ist enorm gut geschrieben, ermuntert indessen nicht wirklich, nüchtern zu werden, da die Alkoholfreiheit nicht so lebensbejahend rüberkommt wie beispielsweise bei:
Nathalie Stüben, Ohne Alkohol. Die beste Entscheidung meines Lebens. Erkenntnisse, die ich gern früher gehabt hätte. Sie erzählt eindrücklich davon, wie sehr viele Probleme DIREKT mit dem Alkoholkonsum zusammenhängen und sich auflösen, wenn der Alkohol einfach weggelassen wird.
Johann Hari, Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen. Das Buch heisst im Englischen nur «Connection» und erklärt eigentlich alles über die radikale Sozialität von Menschen und weshalb Drogen, Alkohol, Essstörungen individuell empfunden werden, deren Verbindung aber einen grausamen Mix von Biochemie und Politik darstellt.
Ruby Warrington, Sober Curious, The Blissful Sleep, Greater Focus, Limitless Presence, and Deep Connection Awaiting Us All on the Other Side of Alcohol. Das ist das beste Grundlagenwerk, um die Schritte der Anonymen Alkoholiker und neue Formen der Abstinenz einzuüben, zu verstehen und um wirklich zu einem glücklichen Leben zu verhelfen. Ruby Warrington hat wie Nathalie Stüben einen eigenen Podcast.
Jakob Veigar zu Kunst und AA in: Art Is a Piece of Cake, siehe www.artisapieceofcake.art
Good News: Der Konsum von alkoholfreiem Bier steigt jährlich um Millionen Liter, da das ehemals «unmännliche Getränk» nicht nur besser schmeckt, sondern auch cool als neuer Trend beworben wird. Sportlerinnen und Sportler greifen gerne zum alkoholfreien Bier, da es dank isotonischer Wirkung regenerativ wirken soll.
Für einmal Alkoholfreie empfehlen sich unterschiedlichste Achtsamkeitsübungen per App oder auch Grundlagenbücher. Wer es lustig haben will, ist mit «Achtsam morden» von Karsten Dusse auf ganz unübliche Art bedient.
Was indessen wirklich immer noch fehlt: grosse Romane, in denen Alkohol keine Rolle spielt und Alkoholfreiheit poetisch transformiert wird.