Von François Lilienfeld — Der englische Dirigent Sir Adrian Boult (1889–1983) gehörte zu den wichtigsten Persönlichkeiten im Musikleben seiner Zeit; außerdem bildete er eine Brücke zum 19. Jahrhundert: Kurz vor dem 1. Weltkrieg geriet er in Leipzig unter den Einfluss von Arthur Nikisch, dem Pultstar der damaligen Zeit. Außerdem begegnete er Fritz Steinbach, Brahmsens Lieblingsdirigenten, und Hans Richter, der bei der «Ring»-Uraufführung in Bayreuth am Pult stand (1876). Boults Karriere brachte ihn dann vor allem mit englischer Musik in Kontakt. Er war mit Elgar, Vaughan Williams und Holst befreundet, und dirigierte Uraufführungen zahlreicher Werke dieser Meister. Vor allem außerhalb Englands wurde er somit als Spezialist kategorisiert, was er nicht war. Im Gegenteil, die Breite seines Repertoires war beeindruckend.
Boults Technik war sparsam, aber wirksam: Mit seinem langen Dirigierstab erzielte er, fast nur aus den Handgelenken arbeitend, ein dynamisches Spektrum und eine Fülle an Nuancen, die immer wieder erstaunten. Dabei blieb für ihn immer das Werk, sein formaler Aufbau und sein Ideengehalt im Vordergrund. Nichts war ihm fremder als Starallüren.
1930 gründete er das BBC Symphony Orchestra; mit ihm nahm er zahlreiche Schallplatten mit einem diversen Repertoire auf. Später wollten die Plattenfirmen immer mehr vorwiegend «englische» Titel mit ihm aufnehmen, mit wenigen Ausnahmen.
Der Anlass für die hier wiederveröffentlichten Spätaufnahmen Boults wurde durch seine Effizienz gegeben: 1970 beendete er eine Sitzung mit englischer Musik früher als vorgesehen. Er schlug vor, in der verbleibenden Zeit die Symphonie No. 3 von Brahms einzuspielen. Die Platte wurde zum großen Erfolg, und bald folgten die restlichen Orchesterwerke dieses Komponisten, wobei vor allem die Altrhapsodie mit Dame Janet Baker zum ergreifenden Höhepunkt wurde.
Der Damm war gebrochen, und bei EMI erschienen bis kurz vor des Dirigenten Tod einige der bedeutendsten Tondokumente aus Barock, Klassik und Romatik, Interpretationen, die Schallplattengeschichte geschrieben haben. In den meisten Fällen spielte das London Philharmonic Orchestra.
Es ist das wunderbar ausgewogenen Gleichgewicht zwischen Werktreue und einer starken, aber nie erdrückenden Individualität, welches diese lange erwarteten Wiederveröffentlichungen so wertvoll macht. Besonders überraschen die Brandenburgischen Konzerte. Hier wird mit relativ großer Besetzung musiziert, ohne dass der Klang je dick, der Ablauf schwerfällig wirkt. Boult verbindet Legato-Aesthetik mit einem untrüglichen Sinn für rhythmischen Fluss. Seine Solisten sind hervorragend, und in ihrer Wahl historisch richtig: Boult verwendet in den Konzerten 2 und 4 Blockflöten. Besonders zu erwähnen ist der erste Satz des Dritten Konzertes, in dem es Boult wie keinem gelingt, die zunehmende Spannung dieses außergewöhnlichen Stückes spürbar zu machen.
Zu erwähnen sind auch die Jupiter und die Pastorale (beide mit allen Wiederholungen!), sowie die Große C‑dur von Schubert, eines von Boults Lieblingswerken.
Die Wagner-Auszüge lassen erahnen, was für ein Verlust es für die Opernwelt ist, dass Boult selten bei Bühnenwerken am Pult stand. Schuld daran war zum großen Teil sein Kollege Sir Thomas Beecham, der in seiner Zeit als Chef von Covent Garden nicht gerne begabte «Konkurrenten» akzeptierte … In einem seiner letzten Konzerte dirigierte Boult in der Royal Festival Hall in London unter anderem Ouvertüre und Matrosenchor aus dem «Fliegenden Holländer». Ich war dabei und kann bezeugen, dass man den Sturm und das Meeresbrausen förmlich fühlte.
Eine der schönsten Perlen dieser Serie stammt allerdings nicht aus dem Theater: Das Siegfried-Idyll.
Bei den Wagner-Aufnahmen muss sich EMI eine kleine Kritik gefallen lassen: Warum wurde die Ouvertüre zum 3. «Tannhäuser»-Akt nicht in diese CD-Sammlung aufgenommen? Neben ihrem musikalischen Wert ist diese Einspielung ein Dokument: Es handelt sich um die einzige Aufnahme (Irrtum vorbehalten…) der Uraufführungsfassung dieses Stückes. Wagner kürzte es dann, aus dramaturgisch begreiflichen Gründen, um etwa die Hälfte. Im Konzertsaal hat aber diese Erstfassung, eine Art Symphonischer Dichtung, durchaus ihren Platz. Es lohnt sich, in Antiquariaten nach einer früheren CD (EMI CDM 7 63120 2) oder der Original-LP (EMI ASD 2934) zu suchen.
Die Aufnahmequalität ist sehr gut, deutlich hört man die Vorteile von Boults Orchesteraufstellung mit den ersten Geigen links, den zweiten Geigen rechts vom Dirigenten, eine alte deutsche Tradition, die zum Glück heute immer mehr angewendet wird. Der Begleittext von Martin Cotton (englisch, deutsch und französisch) ist knapp, aber informativ.
Wahrlich, eine Sammlung für die sprichwörtliche «einsame Insel»!
Sir Adrian Boult from Bach to Wagner
11 CDs in Kassette
EMI 6 35657 2 (2012)
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013