Von Hannes Liechti — Die Geschichte des Latin-Hiphop von seinen Anfängen in den Ghettos New Yorks bis zu seinem kommerziellen Durchbruch in Los Angeles: Schon lange ist Hiphop kein rein amerikanisches Phänomen mehr. Auf der ganzen Welt gibt es mittlerweile lokale Hiphop-Communities, in zahlreichen Sprachen wird heute gerappt. Hiphop ist also längst international und multikulturell geworden und ist kein «black thing», wie immer wieder behauptet wird. Und, was viele nicht wissen: Auch in seinen Anfängen war es das nicht.
Ihren Ursprung findet die Hiphop-Kultur Mitte der 70er-Jahren in den Ghettos New Yorks. Die Bevölkerung von Harlem und der Bronx war zu einem grossen Teil afroamerikanisch. Daneben lebten am selben Ort aber auch zahlreiche Latinos. Genau hier, also zeitgleich mit der Geschichte des Hiphop überhaupt, beginnt auch die Geschichte des Latin-Hiphop.
Die Latinos waren integraler Bestandteil der Hiphop-Kultur in seinen Anfangsjahren und nicht nur Fans in der Statistenrolle. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Elementen Graffiti und Breakdance. In den übrigen zwei Elementen des Hiphop, DJing und Rap, war es für Latinos hingegen lange sehr schwer, sich durchzusetzen.
Die Situation begann sich nur langsam zu ändern und Latino-Rapper in ganz Amerika gingen ehrgeiziger und selbstbewusster der Idee eines identitätsstiftenden Latino-Raps nach. Der kommerzielle Durchbruch, gelang erst zu Beginn der 90er-Jahre in Los Angeles.
Die Entwicklungsjahre Zurück in das New York der 70er-Jahre: In der Bronx und in Harlem lebten Afroamerikaner und Latinos Seite an Seite. Die grösste Gruppe innerhalb der Latinos stammte aus dem offiziell mit den USA assoziierten Freistaat Puerto Rico. Weiter lebten zahlreiche Dominikaner und Kubaner in Big Apple. Es erscheint verständlich, dass Latinos und Afroamerikaner in jedem Bereich des täglichen Lebens aufeinander trafen. Dabei entstand eine Verschmelzung zweier Kulturen, die bereits in den 40er-Jahren mit Cubop (Latin Jazz) ihren Anfang nahm, und im Hiphop in den Siebzigern ihre Fortsetzung fand.
In «Wild Style», dem Hiphop-Kultfilm aus dem Jahre 1983, wird die Bedeutung der Latinos innerhalb der Hiphop-Kultur besonders gut sichtbar. Die beiden Hauptpersonen und Graffitikünstler, Lee Quiñoes (Zorro) und Lady Pink stammen beide aus Puerto Rico. Nicht nur in der Graffiti-Szene waren Latinos prominent vertreten, auch im Breakdance spielten sie eine zentrale Rolle. Lateinamerikanische Tanzstile wie Rumba, Mambo oder Latin Hustle haben die Entstehung des Breakdance neben anderen Stilen massgeblich beeinflusst. Die wichtigsten Break-Crews von New York wurden alle von Latinos dominiert, insbesondere die Rock Steady Crew mit ihrem puertoricanischen Leader Richard Colón alias Crazy Legs.
Ungleich schwieriger war es für Latinos im Rap und DJing Fuss zu fassen. Rap galt als eine schwarze Angelegenheit. Häufig hiess es abschätzig: «What the fuck are you doing here, Porto Rican?» Die Folge davon war, dass viele Puerto Ricaner, die sich mit Rap versuchten, im Untergrund blieben und ihr Talent nur an Home- oder Blockpartys zeigten. Trotzdem gab es Latinos, die sich in diesen frühen Tagen des Rap einen Namen machen konnten.
Dazu mussten sie sich jedoch völlig unauffällig verhalten und alles, was ihre lateinamerikanische Herkunft verriet, verdecken. Spanische Namen oder gar spanische Texte hatten keine Chance. Künstlernamen wie sie Prince Whipper Whip und Ruby Dee von den Fantastic Five oder Master OC von den Fearless Four gewählt haben, lassen keine Puerto Ricaner vermuten.
Der berühmteste Puerto Ricaner dieser Tage, war DJ Charlie Chase von den Cold Crush Brothers,
einer Hiphop-Gruppe der ersten Stunde. Als DJ versuchte er seinen lateinamerikanischen Hintergrund in den Hiphop einfliessen zu lassen. Immer wieder baute er möglichst unauffällig kurze, rhythmische Sequenzen, sogenannte Breaks, aus der lateinamerikanischen Musik in seine DJ-Sets mit ein. Latin-Breaks waren beim Publikum sehr beliebt, nur wusste dieses über deren Ursprung nicht Bescheid.
«Disco Dream» und Spanglish 1981 erschien auf Suger Hill Records «Disco Dream» von Mean Machine. Es war der erste Rapsong, der auf Vinyl gepresst wurde und spanische Rhymes verwendete. Das war etwas Neues, noch nie Gehörtes. Dieser Track beeinflusste viele spätere Latin-Hiphopper im ganzen Land. Es sollte aber noch rund acht Jahre dauern, bis sich Latin-Hiphop kommerziell durchsetzen konnte.
«Disco Dream» verwendet Spanglish, eine Mischung aus Spanisch und Englisch. Ein Slang, der die Kommunikation der Latino-Kids auf der Strasse widerspiegelt; ein weiteres Beispiel für die Vermischung von afro- und lateinamerikanischer Kultur.
Die Single zeigte den Latinos, dass spanische Rhymes möglich waren. Puertoricaner, die bis anhin vor allem auf Englisch rappten, hatten nun den Mut, spanische Texte zu schreiben und sie auch zu verwenden. Gleichzeitig steigerte sich auf der Strasse die Akzeptanz spanischer Texte sowie hispanischer MCs und DJs. Wenn sich Leute wie Prince Whipper Whip oder Charlie Chase bislang hinter ihren Namen verstecken mussten, war jetzt das Gegenteil der Fall: Latinos waren «in», Spanisch war etwas Neues, das faszinierte.
Kommerziell war indessen nach wie vor Funkstille angesagt. Nach «Disco Dream» folgte lange nichts mehr. Für Mean Machine blieb es bei dieser einen Platte und auch andere Acts hatten keine Aussicht auf kommerziellen Erfolg. Unter anderen sind vor allem zwei Ursachen für diese Ignoranz seitens der Plattenindustrie zu nennen: Zum einen richtete sich der Fokus im Hiphop dieser Jahre zunehmend auf «Black Nationalism». Zum anderen war «Bilingual Rap» nicht gewünscht. Die Vertreter der Plattenfirmen forderten Latino-Rapper auf, sich für eine Sprache zu entscheiden. Doch das wollten die puertoricanischen MCs nicht. Zu fest waren sie in der amerikanischen, und in der puertoricanischen Kultur verwurzelt, als dass sie sich auf eine Sprache einigen wollten. Für viele war Englisch Alltagssprache und Spanisch Muttersprache – wenn überhaupt.
«La Raza»: Latino-Rap Mit der Herausbildung einer zweiten grossen Hiphop-Szene an der West Coast und dem Aufkommen des Gangsta-Rap Ende der 80er-Jahre begann auch für den Latin-Hiphop eine neue Ära. Schauplatz war nicht mehr New York, sondern Los Angeles an der Westküste, genau genommen der Stadtteil South Gate, in welchem überwiegend Latinos lebten. Der Grossteil davon war mexikanisch stämmig. Latinos mit einer mexikanischen Vergangenheit werden oft auch als Chicanos bezeichnet. Im selben Viertel L.A.s, das auch Chicano City genannt wird, wuchs Mellow Man Ace mit seinem Bruder Sen Dog auf. Letzterer gründete die bis heute international wohl erfolgreichste und bekannteste Latino-Rap-Gruppe überhaupt: Cypress Hill.
Doch bevor Cypress Hill das Geschehen bestimmen sollte, waren zwei Veröffentlichungen nötig, um das kommerzielle Eis für den Latino-Rap endgültig zu brechen. Deren erste ist «Mentirosa» von Mellow Man Ace, 1989 auf Capitol Records erschienen. «Mentirosa» ist die erste Latino-Rap-Single, die Goldstatus erreichte. Ein Jahr später veröffentlichte Kid Frost auf Virgin Records «La Raza».
Frost stammt von mexikanischen Einwanderern ab und wuchs auf verschiedenen Militärbasen wie auch in South Gate auf. Er war ein Pionier des Latin-Hiphop und wurde für viele gar zum «Godfather of Chicano-Rap». «La Raza», was wörtlich übersetzt «Die Rasse» heisst, hier aber eher im Sinne einer Bezeichnung für die Chicano-Community verwendet wird, wurde für viele Latinos zu einer Art Hymne. Der Text ist teilweise im Chicano-Slang Caló geschrieben. Ein Dialekt, der von spanischen Fahrenden nach Amerika gebracht und dort mit vielen Anglizismen versehen wurde. Inhaltlich beschreibt «La Raza» das Leben von Frosts Latino-Gang, die mit tiefgebauten Autos, den «Lowridern», innerhalb ihres Viertels ihre Stärke zur Schau stellen. «La Raza» verhalf dem Latino-Rap zum endgültigen Durchbruch. Kid Frost gab den Chicanos eine Stimme, mit welcher sie sich identifizieren konnten. Gleichzeitig ebnete er den Weg für viele Latino-Artists und verschiedenste Strömungen innerhalb des Latino-Raps. Darunter, wie erwähnt, auch Cypress Hill, die ihrerseits wiederum viele Latino-Rag-Gruppen inspiriert haben.
Durch den Erfolg von Cypress Hill beeinflusst, versuchten auch in New York einige Latinos im Hardcore-Rap Fuss zu fassen, was teilweise auch gelang. Namen wie Fat Joe, Big Pun oder Beatnuts mögen manchen bekannt sein. Im Gegensatz zu ihren Vorbildern aus L.A. rappen die oben genannten
Artists jedoch nicht in Spanisch oder Spanglish, sondern in Englisch. Sie verstehen sich wie viele Latinos, die kein oder nur wenig Spanisch sprechen, in erster Linie als Amerikaner.
Kein eigenständiges Subgenre Die Geschichte des Latin-Hiphop könnte die Vermutung erwecken, Latino-Rap sei innerhalb des Hiphop ein eigenständiges Subgenre. Das trifft aber überhaupt nicht zu. Latino-Rap ist genauso Gangsta-Rap, Hardcore-Rap oder Conscious-Rap. Die Bezeichnung «Latino-Rap» sagt also einzig etwas über die Herkunft der Akteure, die alle in erster Linie von der lokalen und damit von der afroamerikanischen Hiphop-Community beeinflusst wurden, und bis zu einem gewissen Grade etwas über die verwendete Sprache aus.
Bei der Geschichte des Latin-Hiphop geht es vor allem darum, aufzuzeigen, dass die Entstehung von Hiphop eine multikulturelle und keineswegs eine nur auf Afroamerikaner fokussierte Angelegenheit war. Weiter kann die Geschichte des Latin-Hiphop exemplarisch verdeutlichen, wie Gruppen gleicher Herkunft Hiphop als Mittel benutzen, um eine eigene Identität herzustellen. Beispiele hierfür gibt es mittlerweile in fast allen Winkeln auf dieser Welt. Dies genauer zu verdeutlichen würde den hier vorgegebenen Rahmen aber bei Weitem sprengen.
Bild: Cypress Hill, live / Foto: zVg.
ensuite, Februar 2009