Von Sylvia Mutti — Ich freu mich auf dein Kommen,
ich erwarte dich um zehn.
Nimm den Neunerbus zum Stadtrand,
den Rest, den kannst du geh’n.
Folgt man dieser freundlichen Einladung, welche den ersten Zeilen des Gedichts «Die Lavendeltreppe» von Andreas Thiel entspringt, so gelangt man vielleicht zur «Gudrun Blom Tanzwerkstatt». Seit nunmehr dreissig Jahren bietet sie am Stadtrand von Bern, in Hinterkappelen, für Gross und Klein ein Kursangebot in verschiedenen Tanzstilen an, was mit einer Jubiläumsaufführung gebührend gefeiert wird. Der Geräuschpegel der 90 Mitwirkenden zwischen vier und sechzig Jahren nimmt an der Gesamtprobe eines trüben Sonntagnachmittags im November nervenzerfetzende Ausmasse an. Mittendrin navigiert die Schulleiterin als Ruhe selbst durch den Sturm, gibt letzte Anweisungen, und findet für jedes noch so geringe Problem ein offenes Ohr. Und dann geht es los.
Selbst der ehrwürdige Shakespeare müsste trotz seines gewichtigen Sommernachtstraums vor Neid erblassen ob all den merkwürdigen Geschöpfen, die fortan die Bühne in eine Zauberwelt verwandeln: Die in den Farben des Regenbogens umwölkten Ballett-Elfen sind zwar die jüngsten, tragen ihre glitzernden Flügelchen aber stolz zur Schau und verfügen über genügend kindlichen Leichtsinn, ein Rahabarber-Ei zu entführen. Darob zetteln sie einen Krieg mit den stolzen Pfauen an, bis befrackte Pastinaken und Koboldmajorane für Ordnung sorgen. In der Zwischenzeit kreisen orientalische Hüften, funkeln Taschenlampensterne, und fächeln sich hübsch behutete Damen Luft zu, die sie besser walzern lässt, sofern nicht gerade Wolfsmilchratten sprunggewaltig ihr Revier markieren. Nur die Lavendeltreppe ermöglicht eine Flucht vor «Auberginengnus», «Haselnashörnern» und «Rhododendromedaren».
«Wir haben uns für die Aufführung das Abstrakteste geleistet, und setzen die Skurrilität um», erklärt Gudrun Blom lachend die grotesken Protagonisten des Stücks. Die künstlerische Leiterin der «Tanzwerkstatt» hat gemeinsam mit Tänzerin und Choreografin Anna Heinimann aus Andreas Thiels phantastischem Gedicht, das vor Absurditäten nur so sprudelt, ein Drehbuch entwickelt, und dieses von der Berner Musikerin und Komponistin Annalena Fröhlich mit Liedern, beschwingtem Akkordeonsound oder atmosphärischen Klangcollagen passgenau vertonen lassen. «Die Komposition barg zahlreiche Herausforderungen», sagt Anna Heinimann über die intensive Zusammenarbeit, «und dennoch bietet sie viel Freiraum und Inspiration, welche für die gruppenweise Arbeit in einer so vielfältigen Tanzschule notwendig ist». Der von Thiel aus dem Off gesprochene Text bewegt sich zuweilen auf abstrakten Ebenen, und ist nicht eins zu eins in Tanz übertragbar. Die Verantwortlichen machten es sich mit ihrer Wahl nicht gerade leicht, wenn Zeilen wie: «Schmücke dich mit Seifenkraut / und Wiesenschaumblasen / Man weidet hier die Waden / und badet anemone» im Raum stehen. Doch gerade hierin sieht Gudrun Blom die Möglichkeit, die Phantasie aus dem Vollen schöpfen zu lassen und die eigene «Verrücktheit» miteinzubringen: «Ich liebe solchen Dadaismus. Die Kunst gibt die Erlaubnis, etwas zu kreieren, das es eigentlich gar nicht gibt.»
Gudrun Blom wurde in den Tanz hineingeboren. Aus einer Künstlerfamilie stammend war die tänzerische Laufbahn ein natürlicher Prozess für die heute 67-jährige, die, wie es damals üblich war, mit klassischem Ballett begann. Später sollte sie erfahren, wie wertvoll Tanz auch in anderen Formen sein kann. Neben Engagements an verschiedenen Theatern fand sie Gefallen an choreografischer Arbeit und am Unterrichten. Seit dreissig Jahren besitzt sie nun am mittlerweile dritten Standort in Hinterkappelen eine Tanzschule, denn immer schon hat ihr die Arbeit mit Laien am meisten Spass gemacht: «Erfolg ist, wenn die Leute Freude haben. Es ist nicht unbedingt wichtig, dass es schön aussieht und richtig ist, sondern dass es für den entsprechenden Körper stimmt», sagt Gudrun Blom mit Nachdruck. «Es muss stimmig sein! Bei Profis setzt man dies voraus, bei Laien ist es ein Geschenk». Jegliche Uniformierung ihrer Schülerinnen und Schüler liegt der agilen Frau mit der warmen Stimme fern. Mit Schaudern erinnert sie sich an einen Besuch in einer anderen Schule, wo selbst die kleinste Bewegung perfekt einstudiert aber dementsprechend affektiert wirkte. Auch in der «Lavendeltreppe» stehen die Ballerinen an der Stange – und werfen sich bei jeder Arabesque laut schmatzende Kussmünder zu, ein liebevoller Seitenhieb auf allzu steifen Drill. Und dennoch: Disziplin sei wichtig, sagt Gudrun Blom, nur sie ermögliche es, konzentriert zu arbeiten. Das Bewegungsmaterial wirkt spielerisch und dem jeweiligen Niveau angepasst. Gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern, die eigene Ideen beisteuerten, wurden die Stücke in einer Intensivwoche im Sommer einstudiert und seither im Unterricht geprobt.
Noch verheddern sich Flügelchen, noch wird dann und wann falsch eingespurt und selbstvergessen am Kostüm gezupft, doch be-eindruckt die Ernsthaftigkeit, mit der selbst die Kleinsten ans Werk gehen. Am Schluss der poetischen Reise finden sich Herbstzeitlose, Koboldmajorane, Glühwürmchen und das rest-liche Zaubervolk vor einem gewaltig angewachsenen Ei wieder, das die zierlichen Elfen um einiges überragt. Aus der Schale wird Neues geboren, das Ende wird zum Beginn – auch eine Metapher auf die dreissig Jahre währende Kreativität in der «Tanzwerkstatt».
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2010