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Von Gewohnheitstieren und Verfressenen

Von Bar­bara Roel­li - Der mor­gendliche Kaf­fee muss sein. Am lieb­sten mit aufgeschäumter Milch. Anson­sten kriege ich die Augen nicht auf, kann keinen richti­gen Satz bilden, füh­le mich schut­z­los den Her­aus­forderun­gen des Tages aus­geliefert. Kaum aus dem Nest gestiegen und Blasen- und oder Darm­leerung voll­bracht, tapse ich in die Küche, kralle mir die Büchse mit dem duf­ten­den Pul­ver und fülle die Caf­fet­tiera damit. Dann harre ich vor dem Höh­len­feuer. Beziehungsweise — bei meinen Wohn­ver­hält­nis­sen im Jahr 2009 — vor der blauen Gas­flamme. Warte, bis das Wass­er durch die Hitze getrieben durchs Pul­ver dringt und so zur beleben­den, dunkel­braunen Brühe wird. Auf Kof­fein fol­gt Vit­a­min. «One apple a day keeps the doc­tor away»; ich bevorzuge ein Glas Orangen­saft am Mor­gen — eine Gewohn­heit, die mich seit der Kind­heit begleit­et. Meine jüng­ste Schwest­er trank auch ein Glas am Abend. Den Orangen­saft auf die Nacht zu trinken sollte sie von den lan­gen Sitzun­gen auf der WC-Schüs­sel befreien. Ich finde auch Dör­rpflau­men nach wie vor ein effek­tives Mit­tel bei Ver­stop­fung. Leber­tran mussten wir got­t­lob nie trinken. So wuchs ich auch ohne ihn gesund und wohlgenährt auf. Und mit all den Rit­ualen, die mir als Kind das Jahr so reich erscheinen liessen. Zu jed­er Jahreszeit gab es die kuli­nar­ischen High­lights: Im Früh­ling wucherte der Bär­lauch in unserem Garten wie Unkraut. Und auf Son­ntagss­paziergän­gen wehte uns sein Duft ent­ge­gen. Bär­lauch sam­meln, Him­beeren pflück­en, Pilze suchen, Mar­roni bräteln – diese Aktiv­itäten waren fes­tlich –; ich glaube das waren für mich so etwas wie kleine Erntedank­feste. Rit­uale kuli­nar­isch­er Art sind mir heute noch genau­so wichtig. So etwa das Käse-auf-Brot-Gewick­el beim Fon­due in gross­er Runde. Das Essen aus dem gle­ichen Topf hat so etwas archais­ches. Man isst und ist zusam­men.

Aber so fest ich mich jew­eils auf solche tra­di­tionellen Orgien freue, umso mehr fällt mir auf, wie sich diese von Jahr zu Jahr verän­dern. Aktuell: Das «Eiertütschen» beim Oster­fest. Als wir Geschwis­ter noch an den Hasen glaubten, ver­drück­ten wir lock­er sechs bis acht Eier pro Tag. Wer das härteste Exem­plar erwis­chte, der kriegte vor­erst nichts zwis­chen die Zähne und musste auf die näch­ste «Tütschrunde» warten. Zwis­chen dem sportlichen Schlagab­tausch schäl­ten wir die aus­geschiede­nen Eier, bestrichen sie dick mit Mayo und Senf und bis­sen herzhaft hinein. Zu Ostern waren unsere Kör­p­er ziem­lich cho­les­teringe­laden. Schwest­er Nr. 3 lag meist an der Spitze des Ei-pro-Kopf-Kon­sums in unser­er Fam­i­lie. Sie war echt unschlag­bar. Vor allem liebte sie Aro­mat, von welchem sie grosszügig über die Ostereier streute.

Heute, fast zwanzig Jahre später: Bei meinem Aufruf beim Oster­brunch «Wer tütscht noch ein Ei?» (wohlbe­merkt beim zweit­en Ei) bekomme ich eine abwink­ende Hand zur Antwort. Appetit scheint sich mit dem wach­senden Alter zu verän­dern. Entwed­er ist man nicht mehr so «gfräs­sig» wie früher oder hat gel­ernt, seinen Appetit zu zügeln. Denn «die Lin­ie» ist omnipräsentes The­ma, und die leib­liche Verän­derung wird im eige­nen Umfeld beson­ders scharf beobachtet. «Keep in form» heisst das Dik­tat. Als Kind kriegt man einget­richtert, was gesund ist und was nicht. Und spätestens in der Hauswirtschaft lernt man die Ernährungspyra­mide ken­nen. Hat man noch Babyspeck im Gesicht, ahnt man nicht mal, dass es so etwas wie gesellschaftliche Schön­heit­side­ale gibt. Man schwel­gt in süss­er Unschuld, weiss nicht, was Verzicht heisst und «Vernün­ftig sein» hört man nur die Erwach­se­nen sagen. Wie zu jen­er Zeit, als ich mein Osternestchen noch mit Primeln schmück­te und es kaum erwarten kon­nte, es reich­lich gefüllt wieder zu find­en. Damals zählte ich nicht, wie viele gefüllte und unge­füllte Schog­gi­hasen, Nougat‑, Caramel‑, Moc­ca-Eili und Zuck­er­guss-Hüh­n­er ich weg­putzte. Genau­so wenig wusste ich damals, wie man seinen Body­mass-Index aus­rech­net.

Neben dem in der Tra­di­tion ver­ankerten Schmaus gibt es ja viele Gewohn­heit­en: Das «Schöggeli» zum «Käf­fe­li», das Gipfe­li zum Znüni, Brot um Sauce aufzu­tunken, das «Fyra­big-Bier». Auf­fall­en tun mir auch Gewohn­heit­en bei anderen: Der Arbeit­skol­lege isst jeden Mit­tag beim Chi­ne­sen, die Wohngenossin hält sich im Kühlschrank stets einen Vor­rat an marinierten Oliv­en. Und ich stolpere nach durchzechter Nacht in die Küche und mache mir Spaghet­ti aglio e olio. Ich gehöre zu den Ver­fresse­nen und zele­briere das Essen: Höchst konzen­tri­ert auf Geruch, Geschmack und Kon­sis­tenz gebe ich mich diesem prim­i­tiv­en Trieb hin. Zugegeben, als unvernün­ftig und mass­los kann man diese Gat­tung von Men­sch beze­ich­nen. Ver­fressene lieben Buf­fets, Menü-Ange­bote à dis­cré­tion, eine zweite Por­tion vom Haupt­gang haben sie sich längst angewöh­nt. Nach dem Dessert und Schnaps schlafen sie friedlich.

Foto: Barba­ba Roel­li
ensuite, April 2009

Artikel online veröffentlicht: 8. August 2018