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Vorbereitung auf die Zeit danach

Von Iri­na Mahlstein — Mein Note­book will nicht mehr richtig. Um dieses bescheuerte Word-Doku­ment zu öff­nen, brauchte ich zehn Minuten. Zwis­chen­zeitlich hat sich mein Note­book etwa dreimal aufge­hängt. Und dies wegen eines Word-Doku­ments! Für jeman­den, der es gewohnt ist, mit 32 Giga­byte RAM arbeit­en zu kön­nen, ist dies mehr als ärg­er­lich. Selb­st jet­zt, wo ich diese Zeilen tippe, tippe ich, und etwa zehn Sekun­den später erscheint der Text. Defin­i­tiv, die Luft ist draussen bei meinem Note­book. Ich sollte es längst neu auf­set­zen. Im Moment tendiere ich allerd­ings dazu, alle lästi­gen Arbeit­en auf meine Nach-Dok­torar­beit­szeit zu ver­schieben. Es dauert nur noch bis 25. Juni. Weniger als zwei Monate. Diese Arbeit lässt sich dann bess­er erledi­gen. Denn dann habe ich ja Zeit. Viel Zeit. So stelle ich es mir vor, mein Leben danach.

Mein Leben danach wird toll. Dann kann ich endlich wieder alles machen, was ich jet­zt ver­misse. Dann habe ich Zeit, um in der Stadt herumzuschlen­dern. Am Mor­gen auf dem Weg zur Arbeit eine heisse Schog­gi zu trinken und die ersten Son­nen­strahlen zu geniessen und dabei die Zeitung lesen. Mein Leben danach wird von Ruhe geprägt sein. Dann habe ich Zeit, viel mehr Klavier zu üben, alle Büch­er zu lesen, die sich auf meinem Regal stapeln, und natür­lich werde ich min­destens ein­mal die Woche in die Sauna gehen. Mein Leben danach wird super! Dann kann ich alles nach­holen, was ich die let­zten Jahre ent­behrt habe. Aber nicht nur die let­zten drei Jahre, son­dern über das ganze Studi­um hin­weg! Endlich habe ich Zeit, die Lor­beeren für meine Werke zu geniessen! Nur, habe ich je in meinem Leben Zeit gehabt, um ein­mal die Woche in die Sauna zu gehen? Oder gab es (auss­er zwei Wochen vor einem Konz­ert) eine Klavier­stunde, wo ich nicht zerknirscht gedacht habe, dass ich noch mehr üben hätte kön­nen? Wie oft habe ich denn eine Schog­gi getrunk­en auf dem Weg zur Arbeit?

Ich finde es immer wieder aufs Neue inter­es­sant, mich selb­st zu beobacht­en, wie ich mir den All­t­ag nach einem grossen arbeit­saufwändi­gen Ereig­nis aus­male. Ich tendiere dazu, mir eine rosarote Welt zu kreieren, in der ich ehrlicher­weise gar nie leben möchte. Der Kitsch klebt nur so an den Wän­den in dieser Welt. In ein paar Tagen würde mir wahrschein­lich so sehr lang­weilig sein, dass ich mich zum schwarzen Block gesellen würde, um mit ein paar «1. Mai-Geschossen» Rich­tung UBS meinem per­fek­ten Leben den rosaroten Lack zu zerkratzen.

Trotz­dem wird es gut, mein Leben danach. Weil es ein­fach wieder etwas Nor­mal­ität annimmt und ich wieder weit­er denken kann als 25. Juni. Dieses Datum hängt wie ein gross­es rotes Tuch vor meinen Augen, und ich schnaube langsam immer lauter, weil ich es nicht mehr erwarten kann, endlich durch dieses Tuch in die Frei­heit zu ren­nen. Bleibt zu hof­fen, dass ich beim Zielein­lauf kein gross­es Schw­ert in den Rück­en kriege. Aber davon ist im Moment nicht auszuge­hen. Und deshalb spare ich mir das Neu-Auf­set­zen meines Note­books brav auf für die Zeit danach. Damit genü­gend lästige Arbeit­en auf mich warten, welche den rosaroten Lack beschädi­gen kön­nen.

Denn es würde – ehrlich gesagt – mehr als nur der rosarote Lack mein­er Kitschwelt zerkratzt, wenn ich anfan­gen würde, gegen «das Sys­tem» zu ran­dalieren und es am 1. Mai richtig krachen liesse. Mit Lack­kratzern kann man leben, nicht aber mit einem Totalschaden. Deshalb heisst meine momen­tane Devise: Es ist völ­lig okay, alle lästi­gen Arbeit­en auf die lange Bank zu schieben, alles liegen zu lassen und mich weit­er­hin darüber aufzure­gen. Es ist sog­ar gut für meine Zukun­ft.

Foto: Bar­bara Ine­ichen
ensuite, Mai 2010

Artikel online veröffentlicht: 2. November 2018