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Vorhang auf!

Von Karl Schüp­bach — Inter­view mit Hasan Koru: Vorhang auf: Hasan Koru, Inspizient am Stadtthe­ater Bern, ste­ht auf der Bühne, und nimmt, in gleis­sendes Schein­wer­fer­licht getaucht, Ihren Beifall ent­ge­gen. Liebe The­aterbe­sucherin, lieber The­aterbe­such­er, Sie lesen den Namen des Inspizien­ten in jedem Pro­gramm-Heft. Aber Hand aufs Herz, ken­nen Sie seine vielfälti­gen Auf­gaben, die er hin­ter der Bühne leis­tet, während Sie ges­pan­nt das Geschehen auf den Bret­tern, die die Welt bedeuten, ver­fol­gen? Das fol­gende Gespräch soll Hasan Koru für ein­mal der Anonymität entreis­sen.

Hasan Koru, ich stelle die Behaup­tung auf: Ohne Inspizient hebt sich der Vorhang nicht, und es gibt keine Vorstel­lung zu bewun­dern!

Deine Behaup­tung stimmt – und sie stimmt doch nicht. Es ist so, die Entschei­dun­gen für den geord­neten Ablauf liegen beim Inspizien­ten. Gutes Gelin­gen ist aber nur gewährleis­tet, wenn die ver­schieden­sten Abteilun­gen eng zusam­me­nar­beit­en. Ich kann hier nicht alle aufzählen, aber ich bin auf die Mitar­beit des Büh­nen­meis­ters, der Tech­nik, der Ton-Abteilung, der Beleuch­tung angewiesen, wenn der Diri­gent, das Orch­ester, die Sänger, Schaus­piel­er oder das Bal­lett, vom Beginn der Vorstel­lung bis zu ihrem Ende, unser Pub­likum mit ihren Leis­tun­gen erfreuen. Ich sage es noch anders: Was soll ich mit mein­er Kom­pe­tenz zu Entschei­dun­gen, nur auf mich allein abgestellt, bewirken kön­nen, wenn eine Kulisse nicht richtig ste­ht, ein Sänger oder Schaus­piel­er seinen Auftritt ver­passt, wenn ein Schein­wer­fer aussteigt oder der Ton aus­fällt? Darum: Zusam­me­nar­beit, Zusam­me­nar­beit und nochmals Zusam­me­nar­beit.

Aus einem anderen Schweiz­er-The­ater wurde mir zuge­flüstert, im Stadtthe­ater Bern seien die Arbeit­en für die Inspizienz beson­ders bre­it gefächert. Es gibt also dies­bezüglich Unter­schiede von The­ater zu The­ater?

Diese Infor­ma­tion ist richtig. Das Stadtthe­ater Bern ist ein Drei-Sparten-Haus mit Oper, Schaus­piel und Bal­lett. Es gibt eine Inspizientin und zwei Inspizien­ten im Haus, und wir müssen für jedes Stück ein­set­zbar sein. Die Arbeit für die drei Sparten ist ver­schieden: Bei der Oper ist Noten­le­sen unab­d­ing­bare Voraus­set­zung, zusät­zlich muss auch das Orch­ester betreut wer­den. Die Arbeit für das Schaus­piel wird durch den umfan­gre­ichen Text bes­timmt, und beim Bal­lett sind Ken­nt­nisse von Tanz und Chore­o­gra­phie sehr von Vorteil. Mit Lichtze­ichen und Durch­sagen ist der Inspizient ver­ant­wortlich für kor­rek­te und geregelte Abläufe. Hier eine kleine Aufzäh­lung der vielfälti­gen Auf­gaben: Mit dem Klin­gelze­ichen muss das Pub­likum am Anfang und nach den Pausen in den Saal gerufen wer­den, die Kün­stler, die Tech­nik, der Schnür­bo­den, die Beleuch­tung, das Orch­ester, die Ton­tech­nik, die Sta­tis­terie, sie alle – die Liste ist nicht voll­ständig – warten auf das Ein­satzze­ichen des Inspizien­ten. In anderen Häusern gibt es Inspizien­ten für den Ton und die Beleuch­tung, für die Bühne rechts und links. Hier in Bern wird die gesamte Arbeit von einem Inspizien­ten allein geleis­tet. Er wird dabei unter­stützt von der Regie-Assis­tenz und von der Abend-Spielleitung.

Kön­nen wir noch einen Augen­blick bei den span­nen­den Unter­schieden in Dein­er Arbeit für die Oper, das Schaus­piel und das Bal­lett verbleiben?

Die Unter­schiede sind tat­säch­lich beträchtlich, und sie machen unsere Arbeit ins­ge­samt span­nend und abwech­slungsre­ich. Bei der Oper ste­ht die Musik im Vorder­grund, von der absoluten Notwendigkeit, eine Par­ti­tur lesen zu kön­nen, habe ich schon gesprochen. Ins­ge­samt müssen wir mit vie­len mul­ti-medi­alen Ele­menten arbeit­en, Video und vielfältige Ton­quellen fliessen immer mehr in unsere Arbeit ein. Früher Unge­wohntes, wie ein Schaus­piel­er, der auf der Bühne sin­gen oder ein Instru­ment spie­len muss, gehört zum All­t­ag. Der Tanz ist sich­er eine Kun­st­form, die sehr viel Wis­sen und Erfahrung erfordert. Es ist wirk­lich von Vorteil, wenn man als Tänz­er, gear­beit­et hat. Unter­schiede zeigen sich auch in der Bewäl­ti­gung von Pan­nen. In der Oper fliesst die Musik, ein völ­liger Still­stand ist kaum denkbar. Im Schaus­piel kann es natür­lich vorkom­men, dass ein Schaus­piel­er den Text ver­gisst, da müssen wir sofort dafür sor­gen, dass der pro­gram­mierte Ablauf wieder ins Gle­ichgewicht gebracht wer­den kann, damit Licht- und Tonze­ichen wieder in der richti­gen Rei­hen­folge weit­erge­hen. Das gle­iche gilt für Bal­lett-Vorstel­lun­gen, wenn ein Tänz­er anfängt, zu impro­visieren, weil der Faden der Chore­o­gra­phie ver­lorenge­gan­gen ist. Dabei sind für uns die Anforderun­gen grund­ver­schieden, je nach­dem ob es sich um ein Orch­ester-Bal­lett han­delt, oder ob die Musik ab Ton­träger erklingt. Ein wichtiges Hil­f­s­mit­tel möchte ich noch erwäh­nen, dies gilt für alle drei Sparten: Wir ver­fol­gen einen Durch­lauf während der Vor­bere­itung stets mit den Noten oder dem Text in der einen Hand, in der anderen bedi­enen wir eine Stop­puhr. So ken­nen wir während der Vorstel­lung in jedem Moment den rein zeitlichen Ablauf.

Angesichts der Fülle dieser Auf­gaben, drängt sich die Frage auf: Wo befind­et sich der Arbeit­splatz, und welche Hil­f­s­mit­tel ste­hen zur Ver­fü­gung?

Vom Zuschauer­raum aus gese­hen, mit Blick auf die Bühne, befind­et sich unser Arbeit­splatz auf der linken Seite, gle­ich nach der Büh­nen-umran­dung. Dort ste­hen uns ver­schiedene Hil­f­s­mit­tel zur Ver­fü­gung, Mon­i­tore, Laut­sprech­er, Funkgeräte und ein Com­put­er. Wir haben jed­erzeit eine Über­sicht auf das Büh­nengeschehen. Der Com­put­er ist ein entschei­den­des Hil­f­s­gerät, ohne ihn wären die Abläufe von ein­er einzi­gen Per­son nicht steuer­bar. Die ganzen Lichtze­ichen für alle Beteiligten sind pro­gram­miert, zwei Hände allein wür­den es nie schaf­fen, alle Knöpfe gle­ichzeit­ig zu bedi­enen.

Wie wird man Inspizient, welch­es war Dein per­sön­lich­er Weg?

Es gibt keine Schule für Inspizien­ten, auch keine Aus­bil­dung. Wichtig ist, dass man auf der Bühne ges­tanden hat. Durch die Bühnen­er­fahrung lernt man die Bedürfnisse der einzel­nen Beruf­s­grup­pen ken­nen. Wir haben zwar einen Kün­stler-Ver­trag, aber, wie gesagt, unser Wis­sen muss sehr bre­it gefächert sein. Was braucht ein Orch­ester­musik­er, ein Diri­gent, welch­es sind die Anliegen eines Tech­nikers oder eines Beleuchters? Ich sel­ber bin diesen Weg gegan­gen, als Solo- und Grup­pen­tänz­er im Bal­lett habe ich mir dieses Wis­sen angeeignet. Als die Zeit für einen Wech­sel reif wurde, hat mir die Leitung des Haus­es die Stelle eines Inspizien­ten ange­boten. Das war für mich eine Chance, und ich habe sie im Jahre 2003 gepackt. Ich füh­le mich dem Haus, in sein­er über­schaubaren Grösse, sehr ver­bun­den.

Stellen wir uns inner­lich den Weg eines Werkes vor, von der Auswahl bis zur Pre­miere. Von welchem Zeit­punkt an ist die Mitar­beit des Inspizien­ten uner­lässlich?

Für uns ist der erste Kon­takt zu einem Stück, das zur Auf­führung gelan­gen soll, das Konzep­tion­s­ge­spräch. Hier wird das Werk von der Regie vorgestellt, alle Beteiligten sind dabei, mit Aus­nahme der Tech­nik. Bei der Oper begin­nen nach dem Konzep­tion­s­ge­spräch die szenis­chen Proben, beim Schaus­piel gibt es Lesun­gen, auf der Probe­bühne, wo wir auch, je nach Stück, bere­its dabei sind. Noch ein­mal anders ver­hält es sich beim Bal­lett, dort find­en die Proben in der Regel im Bal­lettsaal statt, und wir sind je nach Chore­o­gra­phie von Beginn weg dabei. Es gibt aber keinen schema­tis­chen Ablauf, vieles hängt vom Schwierigkeits­grad des Stück­es ab. Wir stützen uns auf die Noti­zen, die wir beim Konzep­tion­s­ge­spräch gemacht haben, und wir merken bald, ob es sich um eine schwierige Pro­duk­tion han­delt, wobei das unsere Präsenz bei den Proben bee­in­flusst. Oft holen wir noch zusät­zliche Infor­ma­tio­nen bei den einzel­nen Abteilun­gen ein. Die Proben­zeit bis hin zur Pre­miere dauert sechs bis zehn Wochen. Man darf sich nicht vorstellen, dass der Inspizient dauernd anwe­send ist. Die Probe­nar­beit ist oft getra­gen von ein­er inti­men Atmo­sphäre, vielle­icht wird auch noch impro­visiert, der Ablauf ste­ht noch nicht ganz fest. Da kann sich die Präsenz von allzu vie­len Men­schen störend auswirken. Wie gesagt, es gibt Unter­schiede von Stück zu Stück, aber in der Regel ziehen wir uns nach den Konzep­tion­s­ge­sprächen und den ersten Kon­tak­ten für etwa drei Wochen zurück. Je näher aber der Ter­min der Pre­miere rückt, wenn es Durch­läufe gibt, desto dichter wird unsere Präsenzzeit … bis zum ersten Vorhang hoch.

Dein Name ste­ht zwar in jedem Pro­grammheft, wenn Du arbeitest. Ich habe es aber nie erlebt, dass Du am Schlus­sap­plaus teil­nimmst, oder dass Du in ein­er Kri­tik erwäh­nt wirst. Wie gehst Du mit diesem Dual­is­mus um: Ein­er­seits bist Du abso­lut unent­behrlich für den gelun­genen Ablauf ein­er Vorstel­lung, und – qua­si als Dank – verbleib­st Du in völ­liger Anonymität?

Es ist richtig, wir kön­nen am Schlus­sap­plaus nicht teil­nehmen. Es ist der richtige Ort, um nochmals auf das Zusam­men­wirken viel­er Men­schen und Abteilun­gen hinzuweisen, die eine Vorstel­lung im The­ater erst ermöglichen. Die Dra­maturgie, der Haus­di­enst, die Schnei­derei, die Schreinerei, die Ver­ant­wortlichen für die Garder­oben und für die Kan­tine, sie alle kön­nen am Schlus­sap­plaus auch nicht teil­nehmen, die Applau­sor­d­nung kön­nte ihnen auf der Bühne den nöti­gen Platz gar nicht bieten. Der Applaus am Ende ist das Eine, ein volles Haus, ein zufriedenes Pub­likum und eine gute Res­o­nanz von aussen ist das Andere, daran nehmen wir und alle die Genan­nten teil, mit gross­er inner­er Befriedi­gung. Die Kün­stler, die auf der Bühne den wohlver­di­en­ten Applaus ent­ge­gen­nehmen kön­nen, sind sich der Tat­sache abso­lut bewusst, dass ihr Erfolg nur dank des lück­en­losen Zusam­men­wirkens viel­er Men­schen möglich wurde. Dieses eis­erne Wis­sen um das Miteinan­der verbindet die Men­schen auf, hin­ter oder neben der Bühne. Ich brauche immer wieder das Bild des men­schlichen Kör­pers: wenn auch nur eine Hand in ihrer Funk­tion beein­trächtigt ist, so lei­den auch Kör­perteile, die mit dieser Hand nicht direkt in einem Zusam­men­hang ste­hen. Genau so ist es im The­ater: es geht nur wenn sich alle in die Hand spie­len.

Dem Inter­net (Wikipedia) ist zu ent­nehmen, dass der Inspizient bei unvorherge­se­henen Ereignis­sen in eigen­er Ver­ant­wor­tung und Kom­pe­tenz han­deln muss. Das kann von ein­er zeitlich begren­zten Unter­brechung bis hin zur voll­ständi­gen Absage ein­er Vorstel­lung reichen. Abschliessend und zur Auflockerung die Frage: Hast Du in Bern je eine solche «Katas­tro­phenübung» erlebt?

Bis jet­zt habe ich den Alp­traum ein­er voll­ständi­gen Unter­brechung und Absage ein­er Vorstel­lung nicht erlebt, wed­er als Tänz­er noch als Inspizient. Kürzere oder län­gere Unter­brechun­gen kom­men aber vor, wenn zum Beispiel eine Kulisse hän­gen bleibt, oder sich andere tech­nis­che Pan­nen ein­schle­ichen. Die Frage stellt sich dann immer, ob wir weit­er­ma­chen, ohne dass das Pub­likum etwas merkt, oder ob wir den Vorhang schliessen müssen. In solchen Fällen, oder auch bei Ver­spä­tun­gen muss jemand vom Abend­di­enst – das kann der Inten­dant oder jemand von der Dra­maturgie sein – das Pub­likum informieren. Die Sorge um Pünk­tlichkeit ist eine grosse Her­aus­forderung für den Inspizien­ten, das Pub­likum muss sich auf die angegebe­nen Zeit­en ver­lassen kön­nen. Wie gesagt, ein gestörter Ablauf kann sehr viele Gründe haben, sog­ar die Sicher­heit unseres Pub­likums muss für uns zur Auf­gabe wer­den: Es ist nicht lange her, dass wir das Pub­likum nach Ende ein­er Bal­lett-Vorstel­lung eine halbe Stunde lang im Hause zurück­be­hal­ten mussten, weil draussen eine Anti-WEF Demon­stra­tion tobte. Wir geben uns alle erden­kliche Mühe, Pan­nen zu ver­mei­den. Aber wir sind keine Maschi­nen, und oft ist die Behe­bung eine so span­nende und aben­teuer­liche Angele­gen­heit, dass sie für willkomme­nen Gesprächsstoff nach der Vorstel­lung sorgt. Abschliessend möchte ich noch von ein­er beson­deren Unter­brechung ein­er Vorstel­lung bericht­en, sie klingt anek­do­tisch, soll sich aber wirk­lich zuge­tra­gen haben: Der grosse Rudolf Nure­jew war mit einem von ihm getanzten Solo nicht zufrieden. Kurz­er­hand unter­brach er die Vorstel­lung, ging zum Diri­gen­ten, und ver­langte die Wieder­hol­ung der Stelle, um sie dann vol­len­det zu tanzen. Lei­der ist nicht bekan­nt, wie der Inspizient den Zwis­chen­fall gemeis­tert hat.

Ich danke Dir her­zlich für dieses Gespräch und wün­sche Dir für Deine weit­ere Arbeit am Stadtthe­ater Bern alles Gute.

Foto: Philipp Zin­niker
ensuite, Mai 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 29. Oktober 2018