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Verführung in der Brockenstube

Das Ensem­ble ste­ht schon auf der Bühne, bevor das Stück begin­nt. Betont lust­los warten die Darsteller, schal­ten eine Lampe an und aus. Drehen am Gram­mophon. Gäh­nen. Fliessend ist der Über­gang zum Anfang. Doch so kalt ihre Mimik schaud­ern lässt, so sprudel­nd erweck­en sie ihre Kreativ­ität: L’Orchestre d’Hommes-Orchestres (kurz LODHO) mit ihrem kuriosem Pro­gramm zwis­chen The­ater und Lieder­abend.

Die Grund­lage dieses amüsan­ten Ver­such­slabors sind Lieder von Kurt Weill – dem jüdis­chen Kom­pon­is­ten, der u.a. mit Bertold Brecht die «Dreigroschenop­er» schuf und ab 1933 im Exil in Paris und Ameri­ka schliesslich grossen Erfolg am Broad­way erfuhr. Melan­cholisch, gesellschaft­skri­tisch und mit der gebroch­enen Rei­bung der Mod­erne, so tra­gen die Lieder eine eigene Hand­schrift.

The­atralis­che Musik

Doch LODHO geht es in ihrem Stück «Cabaret brise-jour et autres maniv­elles» nicht um eine Vor­führung dieser Musik, son­dern vielmehr um eine Ver­führung durch dieselbe. Die her­rlich über­ladene Bühne – eine Mis­chung aus ver­rauchter Lieder­bar und kurios­er Brock­en­stube – bietet genü­gend Möglichkeit­en dazu. Jedes Tele­fon, jed­er Besen wird zum Instru­ment. Aus allen Eck­en tauchen bizarre Instru­ment-Erfind­un­gen auf, die den über­sprudel­nden Erfind­ergeist des Ensem­bles bezeu­gen. Oder wer hätte gedacht, dass man aus Block­flöten die faszinierend­ste Sci­ence-Fic­tion-Leuchte basteln kön­nte?

Der Lieder­abend ist nicht nur Musik, son­dern auch betont kör­per­lich­es The­ater. Wenn das Vibra­to klas­sis­ch­er Gesangs­dar­bi­etun­gen per­si­fliert wer­den soll, dann geschieht dies urkomisch mit ein­er Sän­gerin auf einem vib­ri­eren­den Stuhl oder bedrohlich durch eine Män­ner­hand, die sich vib­ri­erend auf die weis­sen Kehlen der Sän­gerin­nen drückt.

Der Mann mit rot lack­ierten Nägeln

Sub­til wer­den auch Geschlechter­fra­gen ver­han­delt. Da pflückt ein Mann alle Per­len­ket­ten von den Frauen ab, um sie sich teils in den Mund zu stopfen, teils selb­st überzus­treifen. Er lack­iert sich die Nägel rot, zieht Ohrringe an. Zwei andere Män­ner begin­nen sich wild zu umar­men, in ihrer Mitte zwei zusam­mengeschweis­ste Mund­har­monikas, auf denen sie sich gegen­seit­ig Musik ins Gesicht blasen. Ger­ade in Zeit­en homo­phober Entwick­lun­gen in Rus­s­land, welche die immer noch beste­hende Angst vor dem geschlechtlich Ander­sar­ti­gen deut­lich machen, erhal­ten solche Bilder eine unaufgeregte Brisanz.

Die Frauen bleiben hinge­gen selt­sam far­b­los. Als ruchlose Ver­führerin, narzis­stis­che Schaufen­ster­puppe und naives Kulleräugchen bieten sie keine Gren­züber­schre­itun­gen, die nicht schon in vie­len Klis­chees bekan­nt wären. Und doch bleibt eine Szene beson­ders im Gedächt­nis: Die Sän­gerin ste­ht in Unter­wäsche stoisch an ihrem Mikro­fon, während sie mit Klei­dern bewor­fen wird. So ver­schwindet sie langsam unter dem Tex­til­berg, wo sie als kör­per­lose Stimme weit­ers­ingt. Die Iden­titäts­find­ung über Ausse­hen wird in dieser Szene skur­ril iro­nisiert, bis unter der ange­häuften Ober­fläche kein Men­sch mehr übrig bleibt.

Weiss­er, hager­er, wun­der­bar­er Blues

In einem der berührend­sten Momente jedoch set­zt die The­atra­lik fast vol­lkom­men aus. Das Orch­ester ste­ht ruhig im Hin­ter­grund, spielt erstaunlich han­del­sübliche Instru­mente. Nur in der Mitte ste­ht eine hagere Män­nergestalt, die im Nachthemd zu sin­gen begin­nt. Die weisse Brust sticht knochig über den zu weit­en Auss­chnitt hin­aus, Augen kullern und Glieder ver­renken sich wie im jahrzehn­teal­ten Dro­gen­rausch. Doch dann set­zt dieser dürre Mann mit ein­er Stimme an, die augen­blick­lich an einen alten, wun­der­baren Blues-Sänger gemah­nt. Wun­der­schön rauchig strickt das Lied einen belebten, dun­klen Kör­p­er um die Hagerkeit des Mannes herum, der durch iro­nis­che Übertrei­bung jedoch gle­ich immer wieder abfällt.

Dieser grandiose the­atralis­che Lieder­abend begeis­tert. Er bietet Unter­hal­tung auf höch­stem Niveau und in seinem humor­vollen Ein­fall­sre­ich­tum auch manch­es Augen­zwinkern, das Gedanken anstösst, welche auf dem Nach­hauseweg noch nach­hallen.

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