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Sag nichts!

Die Vega Brüder Diego und Daniel aus Lima erzählen in „El Mudo“ die Geschichte von Con­stan­ti­no Zegar­ra (Fer­nan­do Bacilio), einem peru­anis­chen Richter. Zegar­ra wird angeschossen und ver­mutet dahin­ter einen Mor­dan­schlag. Denn der Richter gilt als streng, aber gerecht und hat durch seine Urteilssprechun­gen schon so manchen Fam­i­lien­vater hin­ter Git­ter gebracht – und somit in Peru nicht wenige Feinde, in seinen Augen also poten­zielle Mörder. Nach­dem die örtliche Polizei nach ein­er kurzen Phase der Inves­ti­ga­tion den Fall ad acta legt mit dem Urteil, dass die Kugel, die Zegar­ras Stimm­bän­der zer­fet­zte und ihn stumm zurück lässt, nicht für ihn bes­timmt war, nimmt der Richter den Fall sel­ber in die Hand.

Was bleibt, wenn die Sprache wegfällt?

Wo das Gesproch­ene fehlt, bedarf es eines Ersatzes. Sehr schön umge­set­zt hat das 1993 Regis­seurin Jane Cam­pi­on mit ihrem Dra­ma „The Piano“. Die weib­liche Haupt­fig­ur der Geschichte, Ada McGrath (Hol­ly Hunter) ist stumm und macht ihr Klavier zu ihrem Stim­mor­gan. For­t­an fungiert die Pianomusik als Ersatz für Adas Stimme und ergreift den Zuschauer wom­öglich mehr als sprach­lich aus­ge­drück­te Emo­tio­nen. Die Vega Brüder lassen ihre Fig­ur Con­stan­ti­no aber doch mit Buch­staben kom­mu­nizieren: Nach dem Unfall schreibt er alles auf Zettel eines Notizblocks, den er for­t­an mit sich trägt.

Den Richti­gen gefun­den

Der ehe­ma­lige The­ater­lehrer Bacilio spielte in „Chi­camo“ von Omar Forero einen betrunk­e­nen Typen, der nur kurz zu sehen ist. Im Cast­ing für die Rolle in „El Mudo“ fragten ihn die Vega Brüder, welche Rolle er in „Chi­camo“ gespielt hätte und Bacilio erwiderte nur: „The drunk guy“. „Wir haben ihn in dieser Rolle sofort wieder vor uns gese­hen, obwohl er nur einen kurzen Auftritt hat­te. Jed­er, der den Film gese­hen hat, kon­nte sich an ihn erin­nern. Für uns war sofort klar: Wer nach in so kurz­er Zeit einen solch präg­nan­ten Ein­druck hin­ter­lassen kann, muss ein grossar­tiger Schaus­piel­er sein – also engagierten wir ihn“, so die Brüder in einem Inter­view. Und tat­säch­lich spielt Bacilio die Rolle des Stum­men grandios überzeu­gend. Der Charak­terkopf beherrscht seine Mimik der­art, dass selb­st nach­den­klich­es Star­ren in die Ferne nicht aufge­set­zt oder über­trieben wirkt.

Omnipräsentes Frauen­bild

Den­noch bleibt die Fig­ur Con­stan­ti­no erstaunlich kühl, fast schon abweisend, beson­ders sein­er Fam­i­lie gegenüber. Einzig als seine Tochter ihm eröffnet, dass sie kein Jura-Studi­um antreten und somit in seine Fusstapfen treten wird, zeigt der Richter Emo­tio­nen: Er weint bit­tere Trä­nen. Aus Ent­täuschung, aus Hil­flosigkeit? Immer­hin wurde seine Mut­ter, eben­falls Rich­terin, damals umge­bracht. Ihre Anwe­sen­heit zieht sich wie ein rot­er Faden durch den Film, im Schlafz­im­mer des Ehep­aars prangert ein gross­es Porträt der Mut­ter an der Wand neben dem Bett – die stren­gen Augen immer auf den Betra­chter gerichtet. Der Zuschauer bekommt hier das Gefühl, Con­stan­ti­no will mit sein­er Ver­bis­senheit eigentlich den Tod sein­er Mut­ter rächen, sodass alles wieder seine Ord­nung hat. Gegen Ende des Films jedoch winkt Con­stan­ti­no und sein­er Fam­i­lie eine vielver­sprechende Zukun­ft – zumin­d­est nach seinen Vorstel­lun­gen.

Die Sache mit der Selb­stjus­tiz

Ein eben­falls präsentes The­ma in „El Mudo“ ist die Kor­rup­tion der Polizei, der Jus­tiz und schliesslich auch von Con­stan­ti­nos Fam­i­lie sel­ber. Con­stan­ti­no kämpft mit seinem starken Sinn für Gerechtigkeit und dem gle­ichzeit­i­gen Ver­lan­gen nach Rache an seinem ver­meintlichen Ver­fol­ger – und wird so zum Opfer der Maschiner­ie, mit der er sein Geld ver­di­ent. Manch­er Zuschauer fühlt sich hier vielle­icht an Josef K. aus Kafkas „Der Prozess“ erin­nert. Im Film wird der Verdächtige schliesslich aufge­spürt und soll ins Gefäng­nis wan­dern – auch hier schnappt die Kor­rup­tions-Falle zu. Wenn Con­stan­tin im Büro des ermit­tel­nden Beamten sitzt und dieser vorschlägt, man solle dem Verdächti­gen Verge­wal­ti­gung vor­w­er­fen, damit nie­mand das Urteil anfecht­en würde. Die Geschichte nimmt schlussendlich eine Wen­dung, mit der Con­stan­tin nicht gerech­net hat und die so sich­er nicht geplant war. Den­noch nimmt er, schein­bar endlich befriedigt, sein nor­males Leben wieder auf.

„El Mudo“ zeich­net ein sehr schönes Sinnbild: Der Richter, der plöt­zlich stumm wird und sich auf kor­rupte Machen­schaften ein­lässt – denn worüber nicht gere­det wird, das existiert nicht. Der Film lässt einen nach­denken. Über das eigene Gerechtigkeit­sempfind­en und wie weit man sel­ber bere­it ist, für sein Vorhaben über den eige­nen Schat­ten zu sprin­gen und sich auf etwas einzu­lassen, was man bis anhin ablehnte.

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