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Gefangen in der Gegenwart: Joaquim Pinto / E Agora? Lembra-me

Zusam­men haben wir die Welt bereist, oder, die Welt hat uns vor­beige­hen gese­hen“.

Dies ist ein­er der ersten Sätze von „E ago­ra? Lem­bra-me“. Wie fast alle Sätze, die im Film nicht dem Fernse­her oder dem Radio entstam­men, wird er von Joaquim Pin­to gesprochen. „Zusam­men“ meint im obi­gen Zitat mit Nuno, mit dem er seit vie­len Jahren ver­heiratet ist. Der 1957 in Por­tu­gal geborene Joaquim ist sowohl Regis­seur wie auch Pro­tag­o­nist des Filmes. Der Fokus auf seine eigene Per­son hat einen Grund. Bei ihm wur­den 1997 HIV und Hepati­tis C diag­nos­tiziert. Die Infek­tion ver­mutet er weit früher, denn in den USA war ab den 80er Jahren von ein­er Krankheit die Rede, die Homo­sex­uelle umbringt. Auch er musste in diesen Jahren von vie­len Fre­un­den Abschied nehmen. In „E Ago­ra? Lem­bra-me“, was über­set­zt „Und nun? Erin­nere mich“ heisst, zeigt er tage­buchähn­liche Aufze­ich­nun­gen aus dem Jahr 2011, in dem er eine Behand­lung mit neuar­ti­gen Medika­menten (Bocepre­vir, Inter­fer­on, Rib­avirin) zur Bekämp­fung von Hepati­tis C erhält. Das Gift, das er in Form von Medika­menten in seinen Kör­p­er bringt, nimmt grossen Ein­fluss auf diesen, wie auch auf seine Psy­che. Die gravierend­ste Neben­wirkung beschreibt er als eine Trägheit. Ein Ver­har­ren seines Kör­pers, der nicht mehr automa­tisch die Sig­nale aus dem Kopf umset­zt. Der Kör­p­er hat sich vom Geist gelöst, und jedes Sig­nal muss über den Willen kom­mu­niziert wer­den. Symp­to­ma­tisch sagt er „Ich muss wollen um zu wollen“. Die eige­nar­tig­ste Form dieser Tren­nung von Kör­p­er und Geist zeigt sich beim Atmen. Er schreibt dem Brustko­rb, der sich weigert die regelmäs­sige Auf-und-Ab-Bewe­gung durchzuführen, schliesslich gar einen eige­nen Willen zu.

Als Reak­tion auf die immense Wirkung, die das Gift in seinem Kör­p­er aus­löst, wird der Film zu einem fatal­is­tis­chen Klagelied. Kon­stante Meta­pher bleibt dabei die Natur. Das Feuer, dem man sich ent­ge­gen­stellt, das aber den­noch früher oder später über das Land zieht und die Ernte ver­nichtet. Die Hunde, die immer wieder ergeben auf dem Rück­en liegend zu sehen sind und ihre Unter­wür­figkeit ganz offen zur Schau stellen. Die Sch­necke, die für die Über­querung von einem Grashalm eine gefühlte Ewigkeit braucht, welche wir ungekürzt mitver­fol­gen. Die Wespe, die auf dem Fen­ster­sims im Ster­ben liegt und das men­schliche Augen­paar, das sie dabei ruhig und ohne Hil­feleis­tung beobachtet. Keine Hil­fe, weil Hil­fe keinen Sinn macht, weil sie stirbt. Joaquims Fatal­is­mus prangert vor allem die kün­stliche Lebenser­hal­tung unter gross­er Opfer­gabe an. Jedes Wesen hat ein Ablauf­da­tum, wie auch die Men­schheit ein Ablauf­da­tum hat, das er jet­zt für gekom­men sieht. Doch Teil dieses Fatal­is­mus’ ist auch die Akzep­tanz des men­schlichen Jas zum Leben. Er stellt bei sich selb­st die Auswe­glosigkeit im Kampf gegen HIV und Hepati­tis C fest und sieht sich gle­ichzeit­ig in ein­er neuen Behand­lung. Diese unter­schei­det sich von der alten nur dadurch, dass jedes Gift, das neu in seinen Kör­p­er gelangt, tox­is­ch­er als sein Vorgänger ist. Der Men­sch baut auf Hoff­nung und diese führt zum Äusser­sten. Zum let­zten möglichen Mit­tel.

Seine These belegt er mit ein­er his­torischen Unter­suchung von Epi­demien. Jede Krankheit, so Joaquim, hat eine Zeit und eine Geschichte. Syphilis, die Kolum­bus vom neuen Kon­ti­nent mit­brachte, die Spanis­che Grippe 1920, der seine Grossel­tern erla­gen, die asi­atis­che Grippe 1957, die Nunos Eltern auf dem Gewis­sen hat. Hepati­tis C und HIV, die Krankheit­en unser­er Zeit. Denn jede Zeit, und dabei zwingt er uns den Satz umzukehren und ver­dammt die Welt zum Lei­den, hat ihre Krankheit.

Während zu Beginn des Films der Ein­druck aufkommt, Joaquim sei auf­grund sein­er Krankheit zu einem Leben in der Gegen­wart ver­dammt, weit­et er das Argu­ment allmäh­lich auf die gesamte Men­schheit aus. Wenn man Joaquims Gedanke kon­se­quent weit­er­ver­fol­gt, braucht es für eine Zukun­ft wie für eine Ver­gan­gen­heit ein Ver­ständ­nis der Gegen­wart. Dies aber ist dem Men­schen nicht gegeben. Joaquim selb­st sieht sich gezwun­gen, von seinem Glauben an die Wis­senschaft abzukom­men. Seine Krankheit, auf die er allmäh­lich reduziert ist, zwingt ihn dazu. Während er im Film bewusst den eige­nen Glauben an die Wis­senschaft unter­wan­dert, bietet ihm Nunos Glaube im bib­lis­chen Sinn eine wirkungsmächtige Alter­na­tive. Und so gle­icht Nuno plöt­zlich – auch optisch – auf­fal­l­end Jesus und wird selb­st zum Erlös­er, indem er Joaquim mit jew­eils einem einzi­gen Wort von seinem wis­senschaftlichen Hoff­nungs­glauben an den Aus­gangspunkt zurück­zuschmettern ver­mag. Jed­er Kampf ist unnötig. Dies zeigt ein­drück­lich der wis­senschaftliche Exkurs in Mikroskop­bildern. Das HI-Virus nis­tet sich in den Zellen ein. Um das Virus zu ver­nicht­en muss auch die Zelle ver­nichtet wer­den. Der Kampf gegen das Virus endet in der völ­li­gen Zer­störung seines Wirtes. Der Men­sch will Gott spie­len und opfert sich und andere dabei selb­st. Die Opfer­gabe aber ändert nichts am Aus­gang.

Der Film zeich­net ein düsteres Bild unser­er Welt. Er stat­tet die Real­ität mit einem uner­schöpflichen Waf­fe­narse­nal aus, das einzig dazu dient dem Leben auf Erden Leid zuzufü­gen. Gle­ichzeit­ig bietet er dage­gen ein wirk­sames Mit­tel an: der Verzicht auf sämtliche Vorstel­lun­gen von Leben in Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft und dage­gen ein radikaler Fokus auf die Gegen­wart.

Wie das Jahr 2011, indem sich Joaquim der neuen Behand­lung unterzieht, lan­gat­mig und voller Durst­streck­en ist, so ist auch der Film eine grosse Her­aus­forderung. Auf­grund der Länge von 164 Minuten an den Kör­p­er, vor allem aber an den Geist. Es ist eine Wil­lensleis­tung den Film zu Ende zu schauen. Ein­er­seits auf­grund der Länge und Hoff­nungslosigkeit, ander­er­seits auf­grund der Schwere, die auf gewis­sen Bildern lastet. Allen voran die Prä­parate von Kör­pern, die der Syphilis erlegen sind. Die Wil­lensleis­tung wird aber schliesslich vor allem für die Zusam­men­führung der einzel­nen Frag­mente nötig. Der Film ist eine Kom­po­si­tion aus Einzel­frag­menten, die in ein­er poet­is­chen Sprache und ohne explizite Aus­sagen erzählt und müh­sam zusam­menge­führt wer­den müssen. Die Mühe, die viel Zeit in Anspruch nimmt, führt aber, egal ob man Joaquim in sein­er Radikalität zus­timmt oder nicht, schliesslich zu dem, was man Kathar­sis nen­nt. Aus einem Prozess, der sowohl Kör­p­er und Geist bis zum Äusser­sten fordert, tritt man mit einem Mehrw­ert hin­aus. Das Poten­zial dazu ist in diesem Fall gewaltig. Es ist der Stoff, der Men­schen macht.

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