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Treiben in Erinnerungen

Unweit eines Sees, in der Stille der Nacht, sind sie mit dem Auto ste­hen geblieben. Ein Vater, mit seinen zwei Teenag­er-Töchtern auf der Rück­bank, hat unver­mit­telt Halt gemacht; will und kann die Fahrt nicht fort­set­zten, deren erk­lärtes Ziel ein Besuch der verun­fall­ten Gross­mut­ter ist. Hier, an diesem buch­stäblichen Zwis­chenort, begin­nen Vater und Töchter die Erin­nerun­gen ihrer Kind­heit wach zu rufen und an ihnen festzuhal­ten, um den Mor­gen mit sein­er ungewis­sen Zukun­ft her­auszuzögern. Und hier begin­nt für das Pub­likum eine dichte, poet­is­che The­ater­miniatur.

Mit wenig viel erzählen

Dafür braucht die junge argen­tinis­che Regis­seurin Agosti­na López nur eine schlichte Kulisse: Die Bühne ist sparsam beleuchtet, ein schwarz­er Vorhang auf der Hin­ter­seite ver­steckt den Platz, an dem sich ein See befind­en soll, und lediglich ein grauer Vol­vo, der nur in sein­er hin­teren Hälfte dargestellt ist, hebt sich aus der Dunkel­heit des Raumes her­vor. Es ist ein Set­ting, an dem das Büh­nen­bild hin­ter die Sprache und Gestik tritt – und das damit ganz im Zeichen des zeit­genös­sis­chen The­aters in Argen­tinien ste­ht. Nur wenig Geld haben die The­ater­ma­ch­er dort zur Ver­fü­gung und Sub­ven­tio­nen gibt es fast keine, sodass auf anspruchsvolle Büh­nen­req­ui­site verzichtet wird. Stattdessen entwick­elte sich ein erzählstarkes The­ater, das abseits der grossen Büh­nen beste­ht – ver­steckt in Keller und auf Dachbö­den. The­ater bedeutet hier, viel mit wenig Mit­teln zu erzählen. Das merkt man auch dem Stück der 26-jähri­gen López an.

Poet­is­che Gefühlswel­ten

Ihr zweites Werk «La Lagu­na» lebt von ein­er nar­ra­tiv­en Kraft, die sich ganz auf die Fig­uren und deren Gefühlsleben konzen­tri­ert. Stück für Stück lassen sie ihre Kind­heit­serin­nerun­gen aufleben und schwel­gen in ihnen wie in ein­er heilen Lagune, fernab der ungewis­sen und beängsti­gen­den Zukun­ft. Dabei ver­tauschen sich zunehmend die Rollen der drei: Die Ver­ant­wor­tung wech­selt vom erwach­se­nen Vater zur ältesten Tochter Maria, die sich in der Rolle der mah­nen­den Erwach­se­nen wiederfind­et. Immer mehr ste­hen sich die unter­schiedlichen Sehn­süchte der drei gegenüber, und in immer mehr Momenten wird der Wider­spruch zwis­chen ide­al­isiert­er Erin­nerung und erlebter Wahrnehmung deut­lich. The­ater ver­ste­ht sich dadurch bei Agon­sti­na López auch als ein Ort, der die Erfahrun­gen und Bedürfnisse der ver­schiede­nen Leben­salter offen­legt und sie zu ver­ar­beit­en ver­sucht.

Diese Momente drückt sie mit einem guten Gespür für poet­is­che Sinnbilder aus und erweit­ert erzäh­lend den Raum über die Gren­zen der kar­gen Bühne hin­aus: Das gehälftete Auto fungiert als Refugium für die Fig­uren. In ihm suchen sie Schutz, um ihren Emo­tio­nen freien Lauf zu lassen und sich von den Erin­nerun­gen der anderen örtlich abzutren­nen. Auch der See – la lagu­na – wird durch sym­bol­is­che Bedeu­tung angere­ichert: Er ist ide­al­isiert­er Flucht­punkt und birgt gle­ichzeit­ig eine dun­kle Anziehungskraft in sich, in der sich die Fig­uren zu ver­lieren dro­hen. Seine Platzierung ausser­halb des Büh­nen­raums ver­stärkt seine zwiespältige Exis­tenz und ver­lei­ht dem Stück zuweilen eine mys­ter­iöse, fast unheim­liche Atmo­sphäre.

Lachen und Schweigen

Doch das Stück beein­druckt nicht nur durch das erzäh­lerische Feinge­fühl der Regis­seurin, son­dern auch durch die starken schaus­pielerischen Leis­tun­gen, die auf der min­i­mal­is­tis­chen Bühne voll zur Gel­tung kom­men: Sie ermöglichen es, dass das Pub­likum heit­er auflacht, wenn sich die bei­den Töchter (Mar­ti­na Jun­cadel­la, Denise Groes­man) mit Rum betrinken und um die Wette rülpsen. Oder dass es betrof­fen schweigt, wenn die jün­gere Tochter kindlich-naiv einen chi­ne­sis­chen Gesangsauftritt nach­spielt, der sich schle­ichend in den beängsti­gen­den Zeu­gen­bericht ein­er Blut­tat steigert und die Grausamkeit der Real­ität deut­lich zurück auf die Bühne bringt. Und bei allem mag das Pub­likum einen Teil von sich in den Fig­uren ent­deck­en: Die kindliche Ver­spieltheit, den erwach­se­nen Ernst und den jugendlichen Aufruhr.

Am etwas abrupten Stück­ende wirkt es deshalb so, als hät­ten sich die Zuschauer eben­falls an den Ort der Erin­nerun­gen zurück gezo­gen: Sie drehen sich um, warten mit dem Applaus; wis­sen nicht, ob es weit­er geht oder schon vor­bei ist; wollen schein­bar noch etwas bleiben, um zu erfahren, ob und wann die Fam­i­lie ihre Reise fort­set­zen wird. Doch das alles erzählt López nicht mehr – und das ist auch gut so. Denn nur so kann ihre The­ater­miniatur noch ein­mal an Kraft gewin­nen: Der Zuschauer begeg­net dem unbes­timmten Ende; nimmt seine offe­nen Fra­gen und Inter­pre­ta­tio­nen alleine mit auf den Heimweg. Ähn­lich wie es auch den Fig­uren in ihrer Lagune erge­ht, an denen es let­z­tendlich liegt, ihre Entschei­dun­gen selb­st in die Hand zu nehmen und sich dem Unbekan­nten ihrer Zukun­ft zu stellen.

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