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Leere Augen in japanischer Ekstase

Die Über­forderung begin­nt mit ein­er War­nung: Ziehen Sie sich Peler­i­nen an, drück­en Sie sich Ohropax in den Schädel. Machen Sie so viele Fotos, Filme wie Sie möcht­en, ver­bre­it­en Sie diese über­all, machen Sie alles mit uns. Wir übernehmen jedoch kein­er­lei Ver­ant­wor­tung. Und wenn Sie den Raum ver­lassen möcht­en, machen Sie sich bemerk­bar, das Per­son­al hil­ft Ihnen dabei.

Die Per­for­mance «Ms Berserk­er ATTTTTACKS!! Electro*Shock*Luv*Luv*Luv Shout!!!!!» über­trifft die Ver­rück­theit ihres Titels noch bei weit­em. Rund zwanzig Japan­er in Schu­lu­ni­for­men und Fan­tasiekostü­men ver­wan­deln die Bühne in eine bizarre Wasser­rutsche, die sich schwindel­er­re­gend durch die japanis­che Pop­kul­tur schleud­ert und ohren­betäubend eben­so wie knall­bunt in der grell­sten Übertrei­bung endet. «Berserk­er» ist dabei durchge­hen­des Mot­to: Hys­ter­isch bis halb aggres­siv ver­wan­deln sich die Darsteller in schmer­zlose Pop-Kämpfer.

Bizarre Über­griffe

Wass­er wird kübel­weise ins Pub­likum gekippt, aufgewe­icht­es Brot lan­det in den Gesichtern der ersten Rei­he. Zwis­chen den darge­bracht­en Pop­songs drück­en sich leicht bek­lei­dete Darsteller durch die Zuschauer, ani­mieren sie zum Bällew­er­fen, lan­den wild knutschend auf ver­dutzten Schweiz­er Knien. Das Pub­likum ist über­fordert, ken­nt die Kul­tur nicht, die hier über­dreht wird, weiss nicht, wie es reagieren soll. Da nützen die spär­lichen Anweisun­gen lei­der fast nichts, die in unver­ständlichem Englisch geliefert wer­den und sich neben dem tosenden Pop-Kitsch kaum mehr durch die Ohropax durch­quetschen kön­nen.

Und doch steckt die Energie an. Es ist faszinierend, Japan­er beim Durch­drehen zu beobacht­en und ihnen ver­wun­dert dabei zu helfen. So wer­den nach der zweit­en Wasser­dusche auch gern mal Hart­plas­tik­bälle mit Schwung zurück­ge­wor­fen und Papier­fet­zen in den Haaren der Nach­barin ver­streut. Man ken­nt das japanis­che Lächeln und dessen masken­hafte Höflichkeit. Höflichkeit bedeutet immer Dis­tanz zum Mit­men­schen, doch diese Per­for­mance baut jede Dis­tanz ab. Jet­zt greifen sie zu, jet­zt greifen sie ein! Es ist fer­tig mit der Höflichkeit!

Unendliche Ent­fer­nung der Robot­er

Doch noch viel faszinieren­der ist, dass die Darsteller zwar den Abstand abbauen, ihren Anstand aber vol­lkom­men bewahren. Deut­lich wird dies, wenn die mäd­chen- und jun­gen­haften Gestal­ten aus zwanzig Zen­time­ter Ent­fer­nung ger­adeaus in deine Augen blick­en und trotz dieser unerträglichen Nähe unendlich weit ent­fer­nt sind. Das Lächeln ist masken­haft, der Blick streng chore­o­gra­phiert. Das Mäd­chen nimmt die Augen ihres Gegenübers nicht wahr, son­dern denkt an den näch­sten Schritt, den es sekun­den­ge­nau durch­führen muss. Nicht umson­st wird im Pro­gramm­text der Ver­gle­ich zu nord­ko­re­anis­chen Mass­enin­sze­nierun­gen angetönt: Diese japanis­che Über­wäl­ti­gung ist nicht im Par­a­dig­ma des eksta­tis­chen Kün­stlers, son­dern in der Präzi­sion der Robot­er zu suchen.

Die Unnah­barkeit in der gespiel­ten Ekstase ist das Geniale dieser Per­for­mance. Tôco Nikaidô set­zt sich darin mit der Otaku-Jugend­kul­tur auseinan­der, in der mäd­chen­hafte Idole bis zum Exzess bewun­dert wer­den, obwohl diese Idole selb­st unper­sön­liche Mar­ket­ing­maschi­nen sind und nicht sel­ten aus­genützt wer­den. Diese Ober­flächenkul­tur ver­ar­beit­et die Regis­seurin in einen über­wälti­gen­den pop­ulärkul­turellen Über­griff, der im ersten Moment durch ein knall­buntes Spek­takel begeis­tert, beim zweit­en Blick jedoch die befrem­dende Dis­tanz betont, welche durch die leeren Augen der dressierten Mäd­chen und Jun­gen entste­ht. Dieses Para­dox gilt es unter der Peler­ine auszuhal­ten, während­dessen sich halbe Welt­meere unter den Füssen bilden.

Zum Schluss wat­en die Zuschauer auf Befehl hin selb­st auf die Bühne, kein­er darf sitzen bleiben. Auf diese Weise selb­st aus­gestellt, soll dann gefeiert wer­den – sich selb­st, die Welt oder was auch immer. Aber Haupt­sache, der Jubel fällt so aus, wie es die Regis­seurin vorge­se­hen hat.

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