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Mit Schnürlischrift gegen das Schweizer Bildungssystem

Während einem Jahr begleit­ete die Kam­era des Schweiz­er Regis­seurs Yves Yersin die Bergschule von Der­rière-Per­tu­is. Ent­standen ist, acht Jahre später, «Tableau Noir»: eine gelun­gene Doku­men­ta­tion, authen­tisch und kri­tisch gegenüber dem Bil­dungssys­tem Schweiz. Einzig die Mit­tel des Regis­seurs zur Lösung dra­matur­gis­ch­er Prob­leme erscheinen teil­weise unnatür­lich.

Seit drei Gen­er­a­tio­nen unter­richtet Lehrer «Mon­sieur» Gilbert Hirschi an der kleinen Bergschule von Der­rière-Per­tu­is in den Anhöhen des Juras. Eine einzige Klasse zählt sie, unge­fähr zwölf Kinder, zwis­chen sechs und elf Jahre alt, ver­brin­gen da gemein­sam ihre Pri­marschulzeit. Ihr Schu­lall­t­ag ist geprägt von den Meth­o­d­en und der Per­sön­lichkeit Hirschis. Täglich holt dieser die Kinder mit dem Schul­bus ab und fährt sie zur Schule.

2007 begleit­ete die Kam­era des inzwis­chen 71-jähri­gen Schweiz­er Regis­seurs Yves Yersin, dessen Film Les petites fugues (1979) zu den erfol­gre­ich­sten Schweiz­er Fil­men aller Zeit­en gehört, die Klasse während einem Schul­jahr. Nun, nach vie­len Jahren mit grossen Finanzierung­sprob­le­men und dem lange aus­sicht­s­los scheinen­den Kampf gegen die Mate­ri­alfülle, kon­nte der Film «Tableau Noir» im inter­na­tionalen Wet­tbe­werb am Film­fes­ti­val Locarno endlich dem Pub­likum präsen­tiert wer­den. Zum Glück, denn Yves Yersin und sein­er Crew ist es gelun­gen, die Drehar­beit­en so in den Schu­lall­t­ag zu inte­gri­eren, dass die Kinder die Präsenz der Kam­era vergessen kon­nten.

Mit Kopf, Herz und Hand

Vielle­icht hat­ten die Kinder aber schlichtweg keine Zeit sich um die Kam­era zu küm­mern, denn der Schu­lall­t­ag in Der­rière-Per­tu­is ist lebendig. Bewe­gung, spielerisches Ler­nen und Gespräche: Johann Hein­rich Pestalozzi hätte seine helle Freude gehabt an der Päd­a­gogik Hirschis. Kopf, Herz und Hand? Ja, und mehr als das! Hirschi fordert von sein­er Klasse vollen Kör­pere­in­satz. Da wer­den Pflanzen nicht nur mit der Lupe, son­dern auch mit dem Mund inspiziert, während dem Klassen­lager wird die Region um den Walensee im Schlamm nachge­baut und im Deutschunter­richt redet die Klasse nicht nur über Früchte, son­dern bere­it­et gle­ich einen Frucht­salat zu.

Berührend ist der Film vor allem durch seine Nähe zum Schu­lall­t­ag, zu Lehrer Hirschi und den Kindern. Er bringt uns zum lachen, wenn ein Mäd­chen sein Geburts­da­tum nicht ken­nt, allerd­ings inbrün­stig behauptet, es habe immer am Mittwoch Nach­mit­tag Geburt­stag. Wir lei­den mit, wenn Miri­am weint, weil ihr Dik­tat mehr Fehler enthält, als sie sich zugeste­ht. Und wir sind beein­druckt vom Impro­vi­sa­tion­stal­ent der Kinder, als der kle­in­ste Bub beim Schulthe­ater seinen Ein­satz knapp ver­passt.

Schnürlis­chrift als rot­er Faden
Die Doku­men­ta­tion ist in Kapi­tel unterteilt, die jew­eils mit Krei­de in Schnürlis­chrift auf das «Tableau Noir» geschrieben wer­den. Inner­halb dieser Kapi­tel wird irgend­wann klar: Die Exis­tenz der Schule ist in Gefahr. Der kom­mu­nalen Poli­tik reicht die lim­i­tierte Anzahl Kinder nicht, um eine ganze Schule zu betreiben. Eltern, Lehrer Hirschi und die Kinder kämpfen gemein­sam, doch vergebens. Die Schule muss Ende Jahr schliessen. Hirschis Abschied ist der Moment, in dem nur wenige Augen trock­en bleiben; im Film, im Kinosaal.

Yersin hat bei der Auswahl der Szenen aus unzäh­li­gen Stun­den Film­ma­te­r­i­al vieles richtig gemacht. Einige erweck­en beim Zuschauer allerd­ings den Ver­dacht, sie seien (nach)gestellt. Zum Beispiel wenn Lehrer Hirschi mit Bewohn­ern der Gegend, denen er auf dem Schul­weg schein­bar zufäl­lig begeg­net, über die Gefahr der Schlies­sung der Schule disku­tiert. «Wenn die Schule schliesst, ist der Berg tot», sagt ein Gesprächspart­ner. Eine schöne, tre­f­fende Aus­sage, die genau das Gefühl des Moments im Film wider­spiegelt, doch sie wirkt etwas gekün­stelt und nicht ganz spon­tan geäussert.

Nachgestellte Szenen

Keine Frage, ein Doku­men­tarfilmer darf Szenen nach­stellen, um möglichst nahe an die (Re)konstruktion der Wirk­lichkeit zu gelan­gen. Und der Zuschauer darf sog­ar bemerken, dass eine Szene wom­öglich vom Regis­seur bee­in­flusst wurde. Doch sie sollte nicht kün­stlich wirken, sodass man das Gefühl kriegt im The­ater zu sitzen. Es scheint, als hätte Yersin Prob­leme gehabt, die Entwick­lung der Geschichte um die Gefahr der Schlies­sung der Schule dra­matur­gisch umzuset­zen und deshalb zum Mit­tel der Kon­struk­tion gegrif­f­en.

Im öffentlichen Gespräch über seinen Film direkt nach der Pre­miere in Locarno erzählt Yersin offen, dass einige Szenen rekon­stru­iert wur­den. Die Film-Crew habe sich in der Schule so diskret wie möglich ver­hal­ten, doch manch­mal hät­ten sie die Kinder beispiel­sweise gebeten etwas für die Kam­era zu wieder­holen. So wur­den die Kinder hin und wieder zu Schaus­piel­ern, allerd­ings Schaus­piel­er, welche die Real­ität sein­er Ansicht nach «par­faite­ment» wieder­gaben.

Die Kam­era im Schu­lall­t­ag

Abge­se­hen von den weni­gen, kurzen Szenen, die zu gestellt wirken, haben Yersin und sein Team eine bewun­dern­swert authen­tis­che Doku­men­ta­tion geschaf­fen. Die Präsenz der Kam­era, und damit ver­bun­den die Inter­ven­tion in den Schu­lall­t­ag, begin­nend bei der täglichen Verk­a­belung der Kinder bis hin zur Anpas­sung der für die Kam­era opti­malen Licht­si­t­u­a­tion im Klassen­z­im­mer, bleibt dem Pub­likum ver­bor­gen. Genau dies unter­stre­icht noch ein­mal den einzi­gar­ti­gen Charak­ter der Schule. Denn eine Pro­duk­tion wie «Tableau Noir» erfordert nicht nur Ein­füh­lungsver­mö­gen, Diskre­tion und Neugierde seit­ens des Filmteams, son­dern vor allem unglaublich viel Flex­i­bil­ität, Ver­trauen und Mut seit­ens der Pro­tag­o­nis­ten.

Während man mehr als hun­dert Minuten von der päd­a­gogis­chen Leis­tung Hirschis begeis­tert war und überzeugt ist, dass Kinder zu ihrer Ent­fal­tung im Pri­marschu­lal­ter genau den Raum brauchen, der ihnen an dieser Schule geboten wird, stellt sich am Ende des Films beim Zuschauer ein Gefühl von Rat­losigkeit ein. Und mit der nicht nachvol­lziehbaren Schlies­sung der Schule wird die Doku­men­ta­tion zur Kri­tik an der Bil­dungspoli­tik der Schweiz. Denn im Ver­gle­ich mit der Bergschule kommt unsere eigene Pri­marschule garantiert schlechter weg. Und unsere Pri­marschule existiert ja noch.

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