Von François Lilienfeld — «Wagner ist weder ein großer Dichter, noch ein großer Musiker, allein man kann ihn ein im höhern Sinn decoratives Genie nennen. Das Höchste, wozu ein solch decoratives Genie, von Geist und Bildung getragen, es bringen kann, sind – Wagner‘sche Opern … Der höchste Kunstgewinn, der mit Wagners Einsatz zu holen war, ist aber noch nicht der höchste Gewinn der Kunst. Was gegen die vermeintlich absolute Größe der Wagner‘schen Opern entscheidend bleibt, ist ihre musikalische Unfruchtbarkeit. Es fehlt ihnen, was sich nicht erwerben und nicht entbehren läßt: die göttliche Mitgift, die zeugende Kraft, der angeborene Reichtum – kurz, die ganze schöne Ungerechtigkeit der Natur.»
Aus einer «Lohengrin»-Kritik von Eduard Hanslick, «Presse», Wien, 9. Nov. 1858
Strenge Worte des bedeutenden Kritikers Eduard Hanslick, der, im Gegensatz zu seinem Ruf in der Nachwelt, kein «Beckmesser» war, sondern ein sehr umfassend gebildeter Mensch mit großem musikalischem und schriftstellerischem Talent. Sein Klavierspiel muß hochstehend gewesen sein – immerhin hat er mit Clara Schumann und Johannes Brahms vierhändig gespielt … (In einer kommenden ensuite-Ausgabe wird er ausführlich gewürdigt werden).
Strenge Worte, gewiss. Aber sie entbehren nicht des wahren Kerns. Wagners Charakter zeigt sich wohl oder übel in seinem Werk: das Exzessive, ja größenwahnsinnige Element kommt immer wieder zum Vorschein, schon die Ausdrücke «Zukunftsmusik» und «Gesamtkunstwerk» sind suspekt.
Hanslick ist in seiner Wagner-Rezeption den gleichen Weg gegangen wie Saint-Saëns: Wurde «Tannhäuser» noch mit Interesse, ja Begeisterung aufgenommen, veränderte sich die Lage mit «Lohengrin». «En vérité, ce n’est pas moi qui ai changé, c’est la situation» – dies die Entgegnung des großen französischen Komponisen an diejenigen, die ihm vorwarfen, er hätte in seiner Wagner-Beurteilung eine Kehrtwende gemacht. Er war in der Tat nicht der Einzige, dessen Einstellung sich durch die Entwicklung Wagners verändert hat.
«Tannhäuser» hat viele Kritiker begeistert, und imponiert noch immer durch seine Musik; vor allem der 3. Akt ist – auch dramaturgisch – ein genialer Wurf aus einem Guss. Schade nur, dass das Libretto die unselige Trennung von «sinnlicher» (Venus) und «geistiger» (Elisabeth) Liebe in den Mitttelpunkt stellt – als ob wahre Liebe nicht beide Elemente verbinden könnte, ja, sollte! Im Übrigen war ja Wagner alles andere als ein Kostverächter, was die holde Weiblichkeit betrifft …
Hanslicks langer Artikel über «Tannhäuser» in der Wiener Allgemeinen Musik-Zeitung war überwiegend positiv gewesen. Nebenbei bemerkt: Wie gut hatten es doch die Musikjournalisten damals: Hanslick wurden 12 (zwölf!) Fortsetzungen gewährt, die zwischen dem 28. November und dem 29. Dezember 1846 erschienen – heute hätte er wohl um jede Zeile kämpfen müssen …
In der oben zitierten «Lohengrin»-Kritik steht auch folgende Beurteilung Wagners als Textdichter:
«Um vom Textbuch zu beginnen, so haben wir leider auch hier erleben müssen, daß es für ein selbstständiges Kunstwerk von höchster Poesie, für ein vollkommenes Drama ausgegeben wurde, das man ohneweiters als Schauspiel darstellen könnte. Den Trägern dieser Meinung wünschen wir unbarmherzig, daß damit wirklich der Versuch gemacht werde.»
In diesem Zitat kommen zwei Unterscheidungen zum Vorschein, die für die Wagner-Rezeption bis heute von großer Bedeutung sind: Die Unterscheidung zwischen Wagners Texten und seiner Musik einerseits, zwischen ihm und seinen Anhägern, den «Wagnerianern» andererseits. Auch wenn hier Dinge auseinandergehalten werden, die ursprünglich zusammengehörten, so haben wir dadurch Stoff für grundsätzliche Überlegungen:
Wagners Libretti sind schwülstig, schwerfällig, und sein Rückgriff auf den Stabreim im «Ring» ganz schön nervend – ein Spiegel seiner Persönlichkeit: An sich gute Ideen werden auf exzessive Art angewendet und laufen sich bald tot.
Ich muß ehrlich gestehen, daß Wagner der einzige Opernkomponist ist, dessen Werke ich mir lieber in Übersetzungen anhöre: Sein Pathos lässt sich in keine andere Sprache übertragen! Zahlreich sind auch die Musikliebhaber, die sich gerne Orchesterstücke aus Wagner-Opern im Konzert anhören, sich aber standhaft weigern würden, im Theater «Tristan» oder «Parsifal» anzuhören.
Und damit kommen wir zur Wagnerschen Musik. Auch der kritischste Anti-Wagnerianer wird sich früher oder später von Wagnerschen Werken, oder zumindest von Ausschnitten, hinreißen lassen. Worin liegt denn die wirkliche Größe des Bayreuther Meisters? Sie findet sich ganz klar in der genialen Behandlung des Orchesters!
Wagner war natürlich nicht der Erste, der das Orchester nicht als pure «Begleitung» eingesetzt hat. Bei ihm aber erhält es eine wahrhaft psychologische Rolle, die erst die Handlung verständlich macht – dies ist nicht eine kühne Behauptung meinerseits, sondern eine Aussage Wagners! Wichtigstes Mittel zu diesem Zwecke sind die Leitmotive (auf die wir später genauer zurückkommen). Dadurch wird die Singstimme zur «gehorsamen Tochter» des Orchesters – man verzeihe mir die Verballhornung eines Mozart-Zitates!
Mozart war gewiss ein großartiger Orchestrator; jedoch kann ein Mozart- Rezital mit Gesang und Klavier ein beglückendes Erlebnis sein. Ein Wagner-Rezital ohne Orchester jedoch wäre eine Qual.
Dazu kommt, daß Wagner von seinen Sängern Dinge verlangt, die für die meisten Vokalisten nicht oder nur unter starker Gefährdung der stimmlichen Gesundheit möglich sind. Seine «ewige Melodie» ist keine Melodie mehr, sondern Deklamation. Man denke etwa an die endlosen Wotan-Monologe im 2. Akt der «Walküre».
Schon die ersten, in den Jahren 1900–1910 enstandenen Tonaufnahmen von Bayreuther Sängern, sind erschreckende Dokumente eines unphrasierten, überangestrengten Sprechgesanges. Dass dies nicht an der in Kinderschuhen steckenden Aufnahmetechnik liegt, wie von Wagnerianern oft behauptet wird, beweisen zur gleichen Zeit produzierte großartige Platten von Künstlern wie Enrico Caruso, Nellie Melba, Giuseppe de Luca und vielen anderen. Bezeichnend ist die Tatsache, dass die Ausnahmetalente, welche die Wagnerschen Brocken nicht nur unbeschadet, sondern sogar lyrisch und legato singen konnten, keine ausschließlichen Wagner-Sänger waren, und den Bayreuther Unsitten nicht frönten; ich denke da an Karl Jörn, Jacques Urlus, Hermann Jadlowker, Joseph Schwarz, Friedrich Schorr, Lilli Lehmann, um nur einige besonders berühmte zu nennen. Sie sangen – und zwar in hochstehender Qualität – Mozart und Verdi ebenso wie Lohengrin oder Sieglinde. Der wohl bedeutendste Wagner-Tenor des 20. Jahrhunderts, der Däne Lauritz Melchior, war eine Ausnahmeerscheinung – doch, vergessen wir nicht, dass er als Bariton angefangen hatte, mit einem sehr breiten Repertoire …
Und nun die Leitmotive: Eine an sich schöne Idee, die im Übrigen mitnichten von Wagner stammt. Aber bei ihm wird sie ad absurdum geführt. Der «Ring» verkommt zum Puzzle: Jeder gesungene Satz wird von einem Leitmotiv untermalt, damit auch wirklich klar wird, was der Meister meint. Das kann sehr gelungen sein, wie zum Beispiel im 1. Akt «Walküre», wenn Sieglinde erzählt, dass anlässlich ihres Hochzeitsmahles «ein Greis in grauem Gewand» eintrat, und das im Orchester erklingende Wotan-Motiv keinen Zweifel über die Identität des Besuchers offen lässt. Aber die grenzenlose Häufung dieser Motive wird bald zum l‘Art pour l‘Art. Wirklich profitiert von der Leitmotivtechnik hat Thomas Mann: Er hat sie – und zwar auf äußerst intelligente Art – als poetisches Mittel angewendet (Man denke etwa an Tony Buddenbrooks Oberlippe …).
Jedoch das Orchester! Die schier unendliche Fülle an Klangfarben, die zum Teil wirklich neuartigen Effekte – ja, hier hat Wagner die Musikgeschichte bleibend beeinflusst. Etwa das Gewitter am Anfang der Walküre, das Siegfried-Idyll, das Vorspiel zum 3. Akt Tannhäuser – es gäbe noch unzählige Beispiele für begeisternde, ergreifende, ja überwältigende Momente! Wagner hat zu Lebzeiten oft Konzerte mit orchestralen Auszügen aus seinen Opern dirigiert. Natürlich war dies nicht zuletzt eine Möglichkeit, bekannt zu werden und Geld zu verdienen. Konzerte sind einfacher und billiger zu organisieren als monumentale Opernaufführungen. Ist es nicht erstaunlich, dass Wagners musikalisches Gefühl ihn nicht erkennen ließ, dass hier seine Meisterschaft lag? Womit wir wieder bei seinem Charakter wären: Er wollte eben mehr, er wollte die Instrumentalmusik und die Oper überwinden, um das Musikdrama zu schaffen. Die alljährliche kultische Zelebration in Bayreuth scheint ihm Recht zu geben. Die, auch und gerade im Wagner-Jahr, immer zahlreicheren kritischen Stimmen sind aber auch nicht zu überhören. Wie gesagt: Gleichgültig begegnet ihm wohl niemand …
Ein dritter Artikel zum Thema des 1813 geborenen Jubilars wird sich mit der Geschichte der Schallaufzeichnungen Wagnerscher Werke befassen. Hier zunächst einmal einige bibliographische Hinweise, drei als Grundlektüre empfohlene Titel unter einer wahren Flut von Publikationen älteren und neueren Datums.
Zwei davon stammen von Martin Geck, einem der besten und kritischsten Wagner-Kenner unserer Zeit: Der in der beliebten Reihe der rororo-Monographien erschienene Band gibt, reich illustriert, einen knappen, aber sehr informativen Überblick über Leben und Werk (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2004).
Wer sich intensiver mit dem Thema befassen will, der greife zum kürzlich erschienenen Band «Wagner-Biographie», der – trotz seines Titels – mehr dem Werk als den Lebensumständen gewidmet ist. Sorgfältige, neben den musikalischen auch die philosophischen und psychologischen Aspekte beleuchtende Analysen aller Wagnerschen Werke stehen im Mittelpunkt (Siedler Verlag, München 2012).
Einen sehr klaren Überblick (allerdings ohne Illustrationen) auf ca. 120 Seiten gibt das Taschenbuch von Egon Voss, dessen erstes Kapitel bezeichnenderweise «Der umstrittene Wagner» heißt. Es erschien in der Reihe «C. H. Beck – Wissen» (Verlag C. H. Beck, München 2012).
Zum Thema Eduard Hanslick gibt es Erfreuliches zu vermelden: Der Böhlau Verlag in Wien hat vor 20 Jahren angefangen, die Schriften des Wiener Kritikers in einer von Dietmar Strauß hervorragend betreuten kritischen Gesamtausgabe zu publizieren. Mittlerweile sind die sieben ersten Bände erschienen, und das Jahr 1865 ist erreicht. Hanslick starb 1904, 79 Jahre alt; die Herausgeber haben also noch recht viel Arbeit vor sich … Die Lektüre der Schriften Hanslicks – er schrieb übrigens nicht ausschließlich Rezensionen – gehört zum Packendsten, was ein Musikliebhaber lesen kann!
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013