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Wahlen im Zeitalter der Unterwerfung

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Wahrheit, Wirk­lichkeit, Authen­tiz­ität: Dies ver­sprach der New­com­er Mar­tin Schulz den Mit­gliedern der deutschen SPD. Aus dem Europäis­chen Par­la­ment kom­mend, ist Mar­tin Schulz rein äusser­lich ein älter­er, klein gewach­sen­er Herr mit Bart und Brille, inner­lich aber vib­ri­erend, äusserst humor­voll, intel­li­gent, bele­sen und: ver­dammt ehrgeizig. Er bescherte der SPD jedoch zur Wende des Jahres 2016/2017 ein Anfangsmärchen, als er – wie aus dem Nichts – zum Kan­zlerkan­di­dat­en der altehrwürdi­gen Partei erko­ren wurde.

Man kon­nte das Aufat­men im ganzen Land hören: Endlich war der dicke Sig­mar Gabriel weg. Dieser Genosse der Bosse, ein Gerd-Schröder-Alike ohne dessen Manieren, Ausse­hen und Charme. Endlich mal ein SPD-Vor­sitzen­der, der von der Sozialdemokratie mehr ver­stand als meine Katzen von Demut!

Es war ein Fest.

Der Poli­tik­er aus Würse­len wurde poli­tisch in der Europäis­chen Union und in Brüs­sel sozial­isiert. Dort wurde er durch seinen Wider­stand gegen den dama­li­gen ital­ienis­chen Min­is­ter­präsi­den­ten Sil­vio Berlus­coni bekan­nt. Schulz hat­te 2003 Berlus­coni auf dessen Inter­essen­skon­flik­te zwis­chen Pri­vatun­ternehmen und Poli­tik hingewiesen und die Äusserun­gen der ital­ienis­chen Regierung, auf «Flüchtlings­boote doch mit Kanonen zu schiessen», verurteilt. Berlus­coni flippte aus: «In Ital­ien wird ger­ade ein Film über die Nazi-Konzen­tra­tionslager gedreht. Ich schlage Sie für die Rolle des Lagerchefs vor.» Schulz wies im anschliessenden Pressewirbel darauf hin, dass es prob­lema­tisch sei, wenn aus­gerech­net der Regierungschef der EU-Rat­spräsi­dentschaft der­art die Con­te­nance ver­liere. Schulz war seit­dem ein Poli­tik­er, mit dem europaweit gerech­net wer­den kon­nte.

Im Jahr 2017 war dies zwar sage und schreibe 14 Jahre her, ver­mochte aber immer noch das Image von Mar­tin Schulz zu prä­gen. In der Zwis­chen­zeit hat­te sich der ehe­ma­lige Bib­lio­thekar in Brüs­sel zum ewigen EU-Par­la­mentspräsi­den­ten hochge­mausert: mit viel Kalkül, teils bril­lanten europäis­chen Entwür­fen, mit enormer Wil­len­sanstren­gung und Präsenz. Er war in Brüs­sel so stark, dass nun auch Berlin zu winken begann. 2016 schien die Zeit für Schulz als Aussen­min­is­ter gekom­men: ein logis­ch­er und guter Posten. Doch der dicke Sig­mar Gabriel wusste dies zu ver­hin­dern. Er set­zte sich sel­ber ins Aussen­min­is­teri­um, wo er sich – zum Erstaunen aller – zum beliebtesten Poli­tik­er in Deutsch­land entwick­elte. Mit­tels Umfra­gen hat­te aber Sig­mar Gabriel ermit­teln lassen, dass ein Kan­zler Gabriel wohl nicht mal durch seine eigene Tochter gewählt wer­den würde. So «ernan­nte» der SPD-Vor­sitzende Gabriel den Europa­poli­tik­er Mar­tin Schulz zum Kan­zlerkan­di­dat­en. Wie bei allen ver­lore­nen Wahlen in den Jahren zuvor wurde ein Kan­di­dat aus dem Hut geza­ubert: ohne Vor­bere­itung, ohne Strate­gie, ohne Per­son­alpoli­tik, ohne Parteien­demokratie. So unpro­fes­sionell ver­hal­ten sich heutzu­tage nur noch die Mäuse in unserem Garten – zur Freude mein­er bei­den Katzen.

Wie für die Mäuse sind solche Umstände auch für Parteien furcht­bar. Ein­fach nur furcht­bar.
Der Bericht von Markus Feldenkirchen, der schon für seine Reportage über Mar­tin Schulz, «Man­no­man­no­mann», als Reporter des Jahres 2017 aus­geze­ich­net wurde, ist bru­tal klar, was den Zus­tand der SPD bet­rifft. Er ist aber auch präzis, was den Zus­tand der deutschen Repub­lik bet­rifft. Die Schulz-Sto­ry ist ein her­aus­ra­gen­der Ein­blick in die undemokratis­che Wirk­lichkeit unser­er Zeit.

Feldenkirchen ent­larvt sehr klug, sehr dop­pelsin­nig, sehr intel­li­gent und in ein­fach ver­ständlich­er Sprache die poli­tis­chen und struk­turellen Abgründe der Gegen­wart. Markus Feldenkirchen schafft dies erstaunlicher­weise, ohne von den willi­gen medi­alen Voll­streck­ern der Hin­rich­tung der Demokratie – sprich den Jour­nal­is­ten – gehas­st zu wer­den, obwohl er diese scharf kri­tisiert.

Ein anständi­ger Poli­tik­er und Demokrat wurde, natür­lich mit eigen­em Zutun, aber trotz­dem vor allem von den zynis­chen Medi­en­män­nern, den paar eiskalten Politjour­nal­istin­nen, von den unsäglichen Experten, von den hämis­chen Demoskopen, von den immer nei­den­den Genossen (jaja­ja, der Gabriel taucht regelmäs­sig auf …) unglaublich und sys­tem­a­tisch fer­tig-
gemacht.

«Fik­tion sollte Fik­tion bleiben und nicht die Blau­pause der Real­ität wer­den», sagte Schulz gle­ich zu Beginn sein­er Kam­pagne. «Poli­tik ist nicht Kam­pagne. Poli­tik ist auch kein Kapi­tel aus einem Pub­lic-Rela­tions-Buch. Poli­tik darf nie nur Kampf sein. Vor allen Din­gen darf Poli­tik nicht Intrige sein.» (S.299)

Poli­tik ist genau dies und noch viel dreck­iger, gemein­er, hin­ter­hältiger: vor allem in Deutsch­land. Der Ton unter Deutschen ist ja eh schon ver­dammt rup­pig. Die über­grif­fige Direk­theit, der Befehlston, die «Geiz ist geil»-Mentalität, die Humor­losigkeit und die Kri­tikun­fähigkeit, die in grossen Zügen die Poli­tik kennze­ich­net, aber ganz bes­timmt die Medi­en machen Wahlen grund­sät­zlich zu ein­er Tor­tur für die Betr­e­f­fend­en. Was sich hinge­gen im let­zten Wahl­jahr in Deutsch­land abge­spielt haben muss, ist UNTERSTE SCHUBLADE. Nach der Lek­türe ver­stand ich zum ersten Mal, wie es Wolf­gang Schäu­ble im Jahr 2015 mit aller­grösster Hin­ter­hältigkeit gelun­gen ist, Yanis Varo­ufakis und mit ihm die Demokratie Griechen­lands so voll­ständig zu unter­w­er­fen.

Neben den Jour­nal­is­ten bekom­men auch die Rat­ing-Agen­turen der Demokratie namens UMFRAGEN in Feldenkirchens Buch ihr Fett ab.

«Öffentlich mögen Poli­tik­er die Bedeu­tung von Umfra­gen herun­ter­spie­len. In Wahrheit gibt es für sie nichts Wichtigeres. Die Fix­ierung auf Umfra­gen hat ger­ade in den ver­gan­genen Jahren eine absurde Dimen­sion erre­icht – und prägt so nicht nur den Poli­tikjour­nal­is­mus, son­dern die Poli­tik selb­st. Galt einst der Grund­satz, dass man alle paar Wochen an Umfra­gen able­sen könne, ob die eige­nen Ideen, Aus­sagen und Pro­gramme Anklang find­en, bes­tim­men sie heute schon deren Auswahl.» (S. 139)

Deutsche Poli­tik ver­ste­hen? Markus Feldenkirchen lesen.

Markus Feldenkirchen: Die Schulz-Sto­ry.
Ein Jahr zwis­chen Höhen­flug und Absturz, DVA 2018.

 

*Dr. phil./Dipl. Coach Reg­u­la Stämpfli ist Poli­tolo­gin und Best­seller-Autorin («Die Ver­mes­sung der Frau»).

Artikel online veröffentlicht: 30. Mai 2018