Von Belinda Meier - Robert Walser hat sich zeitlebens sehr eingehend mit Personen und Stoffen der Literaturgeschichte befasst. Seine dazu niedergeschriebenen Betrachtungen beweisen deutlich, wie sehr Walser belesen war und wie gut er darüber Bescheid wusste, wer und was in Sachen Literatur Rang und Namen hatte.
Lesen war für Walser eine äusserst kreative Beschäftigung. Sie bescherte ihm Unterhaltung, die nicht lenkt, sondern sich frei entfalten und somit als Quelle neuer Kreativität verstanden werden kann. Lesen zwingt den Rezipienten demnach nicht zu einem bestimmten Verständnis, wie er dies im Prosastück «Meine Bemühungen» formuliert: «Ich halte gegenüber Büchern sowohl wie Menschen ein lückenloses Verstehen eher für ein wenig uninteressant als erspriesslich.»
In die essayistischen Darstellungen Walsers, die einen spielerischen Umgang mit Sprache entpuppen und zwischen anekdotischen Erzählungen, eindringlichen Dichterporträts, spöttischen Gedichten und szenischen Collagen abwechseln, soll nun Einblick gewährt werden. Viel Spass!
Der Kleist-Darsteller «Was braucht es zu einem Kleist-Darsteller? Offen gesagt, es braucht sehr viel. Schon alleine die Zunge. Da muss einer mit seinen Lippen tanzen und mit seiner deutschen Sprache jonglieren gelernt haben. Einem Menschenmund schlechthin ist es unmöglich, Verse von Kleist wie Verse von Kleist zu sprechen. Mache zehn Jahre lang täglich Atemübungen, dann wage es, dich an einen Grafen von Strahl oder an irgend einen anderen Burschen dieser Rasse heranzumachen. Diese Rasse setzt Zucht voraus, das bedenke, Schauspieler von heutzutage. Hinterher, wenn du dich blamiert hast, lächelst du und sagst, Kleist sei ein rostiges Eisen, Grabbe, das sei was, Kleist, der sei undramatisch. Weil du keine Grazie hast, ist Kleist abgestandenes Wasser, nicht wahr? N’est-ce pas, ich kann nämlich auch ein bisschen Französisch.»
Über Georg Büchner «Der Dichter, von dem ich hier eine Abbildung zu entwerfen versuche, schrieb keine Verse, weil ihn das Verseschreiben verwundet oder irritiert haben würde. Dafür warf er sich mit aller verfügbaren Jünglingskraft in «Als sei ich kapriziös, will ich hier über einige Dichter sprechen. Sprechen? Warum nicht schwatzen, plappern, schwadronieren?» (Robert Walser) eine zufällig gerade damals wellenoder wogenemporwerfende, bald danach aber in alle Sanftheiten ausmündende Revolution. Seither lieben ihn sämtliche Jünglinge; sie finden z. B. unvergesslich, dass er eines Nachts, (…) sozusagen eine Art Flucht ergriff, weil ihn das Gefühl beschlichen haben mochte, man traue ihm eine Denkund Empfindungsweise zu, die sich nicht schicke. (…) Wenn ich fallenlasse, dass aus des Dichters Rocktasche ein noch unaufgeführtes Drama weissblitzend hervorschaute, und wenn ich ausserdem anmerke, dass er eine Jungburschenmütze auf dem denkbar genial veranlagten Kopf trug, worin es von Schaffensund Zukunftsplänen nur so wimmelte, so wird man vielleicht finden, dass ich ihn bis dahin schon ganz treffend porträtiert habe. Dass ihn Locken von der unschuldigsten Sorte schmückten, versteht sich von selbst.»
Shakespeares Hamlet «Hamlet ist gewiss die bedeutendste ‹moderne› Dichtung. Welche Folgerichtigkeit, welche grossen Verhältnisse, was für eine junge Tonart! (…) Weil Hamlet mit seiner geliebten Mutter uneinig war, sah er sich zum Abfertigenlassen möglichst köstlicher Weisheiten verbunden. Wie gerne jedoch würde er auf dieses zweifelhafte Vergnügen verzichtet haben. Seine Mutter verehrend, zwang ihn seine Ehre, sein Gewissen usw., gegen sie vorzugehen, und weil er das tun musste, entsprang seinen Lippen dieses an sich unsagbar traurige: ‹Reif sein ist alles.› Soll nun für uns ein Wort Grundsatz sein, das ein überaus bedrängter, unglücklicher Mensch in seiner Qual aussprach? Reif sein? (…) Sind wir denn nicht eigentlich erledigt, sobald wir reif wurden? Greise, Greisinnen sind reif, aber sie lieben es nicht, an den Reifezustand erinnert zu werden. Wie mancher Reife wünscht seine Gereiftheit gegen ein bisschen Unreife umzutauschen, denn mit der Unreife fängt ja das Leben an.»
Schillers Wilhelm Tell «Was den Wilhelm Tell betrifft, so hat mich von jeher (…) die Frage beschäftigt, ob etwa der Herr Landvogt eine hübsche Frau gehabt habe. (…) Heute jedoch schreibe ich folgendes: ‹Was bedeutet des letzteren (Tell) überraschende Schiesskunst? Ist sie reell oder nicht?› (…) Ich bin z. B. überzeugt, dass (…) der Schweizer, der die Freiheit liebt, dem (…) Landvogt viel zu verdanken hat, indem letzterer erstern zu Taten usw. anspornte. Sollte man nicht beinahe mit der Idee einig gehen dürfen, der Landvogt und Tell seien eine einzige widerspruchsvolle Persönlichkeit? „Schiesse mir einmal einen Apfel vom Kopf deines Knaben!“ wurde befohlen (…) und sofort wird dem eigenartigen Wunsch entsprochen worden sein. (…) Mir scheint bedeutend zu sein, dass beide ein Unzertrennliches, Einheitliches bilden: um einen Tell hervorzubringen, bedurfte die Geschichte eines Landvogts. Einer ist ohne den andern undenkbar. Ungefähr das ist’s, auf das hin ich in diesen Zeilen wilhelmtellhaft hinziele.»
Zu Gottfried Keller «Ein junger Kollege hielt sich vor einiger Zeit für berechtigt, mir zu sagen, ihm komme Keller wie ein Ausklang, herrlich verhallend vor, worauf ich ihm erwidern zu dürfen meinte, dass man dies an allem Vorzüglichen, wahrhaft Schönen, anscheinend Unübertrefflichen für gegeben halten könne, man stehe vor Kellers Werken wi(e) vor einer grossen, von immergrünen Ringmauern graniten und wieder seidenweich und fein umschlossenen Stadt, die mit ihren Mannigfaltigkeiten und in ihrer Ruhe ein nur einmal vorkommendes Kulturbild darbiete, er sei etwas Einziges, und seine beruflichen Nachfolger täten freilich gut, ganz andere Wege zu beschreiten, da es auf Kellerschen Wegen für keinen als nur für ihn selber Aussichten, wertvoll zu werden, gebe. ‹Welchem Dichter bescherte das Schicksal nochmals so viel Unglück und Schwierigkeiten und so viel Begabung, sich ihnen anzuschmiegen, wie ihm›, fügte ich bei (…).»
An Hermann Hesse
«Vorurteile, o, mein Gott,
bilden einen Alltagstrott.
Eines Tages sah ich dich lächeln,
stehen auf dem Podium,
während sich im Publikum
hübsche Frauen heiter fächeln.
Fünfzig Jahr’ alt wurdest du!
Wandernd wird schon mancher Schuh
sich dir abgetragen haben.
Darf ich heute Dank dir sagen,
dass du warst, und dass du bist;
dein Charakter scheint aus List
und aus Liebe zu bestehen,
wir wie Blätter ja vergehen,
Wind und Meer sind grosse Herr’n,
hier gestehe ich dir gern,
dass ich oft in weissem Kragen,
wenn es zart begann zu tagen,
heimwärtsging aus Lustgelagen.
Über den mit ein’gen Gaben
ausstaffierten Hirtenknaben,
der dich feiert, schriebst du mal
einen Aufsatz; sei noch lange
Fisch und Taube, Mansch und Schlange,
und aus deinem Lebensgange,
mittels geistigem Kanal,
brech’ noch mancher Sonnenstrahl.
Deine Lippen sind sehr schmal.
Denke nicht, es wäre Rache,
dass ich dir ins Antlitz lache,
denn anlässlich deines Festes
gab ich hoffentlich mein Bestes.»
Literatur: Robert Walser. Dichteten diese Dichter richtig? Eine poetische Literaturgeschichte. Herausgegeben von Bernhard Echte. Frankfurt am Main / Leipzig 2002
Kurzbiographie zu Robert Walser (1878–1956)
Robert Walser wurde in Biel geboren und absolvierte nach der Schulzeit eine Banklehre. Die Romane «Geschwister Tanner» (1907), «Der Gehülfe» (1908) und «Jakob von Gunten» erzielten zwar Erfolg, dennoch kein solcher, der im literarischen Leben Berlins, wo er seit 1905 lebte, anhielt. Walser kehrte somit 1913 — mit dem Gefühl eines Gescheiterten — nach Biel zurück. Während der Zeit in Biel (bis 1921), in der viele Kurzprosatexte und andere Romane entstanden, kann «Der Spaziergang» (1917) als Hauptwerk hervorgehoben werden. Ab 1921 lebte Walser in Bern. Trotz der Tatsache, dass er in literarischen Zeitschriften und Feuilletons namhafter Tageszeitungen Präsenz markierte, gelang es ihm, nur noch gerade ein Werk zu publizieren, «Die Rose» von 1925. Daneben blieben zahlreiche Texte lediglich in einem Bündel verschiedenster Entwurfsschriften erhalten, die in mikrografischer Schrift überliefert sind, so etwa der sog. «Räuberroman» von 1925. Bernhard Echte und Werner Morlang entzifferten diese Texte in einem arbeitsaufwendigen Prozess und veröffentlichten sie in der sechsbändigen Ausgabe «Aus dem Bleistiftgebiet» (1985–2000).
Zu Beginn des Jahres 1929 erlag Walser einer psychischen Erkrankung. Gegen seinen Willen wurde er in die Psychiatrie eingewiesen, die er bis zum Ende seiner Tage nicht mehr verlassen durfte. 1933 beendete er seine schriftstellerische Tätigkeit und verbrachte die weiteren vierundzwanzig Jahre als Patient in der Heilanstalt Herisau. Am Weihnachtstag 1956 starb Robert Walser auf einem einsamen Spaziergang im Schnee.
Obwohl namhafte Autoren wie Hesse, Tucholsky, Kafka u.a. ihn hoch wertschätzten, blieb Walser sein Leben lang beim breiten Publikum verkannt. Heute gilt er jedoch als der wichtigste Deutschschweizer Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Bild: zVg.
ensuite, Januar 2007