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Was für eine Kultur der Politik

Von Peter J. Betts — Was für eine Kul­tur der Poli­tik bes­timmt die Zukun­ft unser­er noch sehr jun­gen Gat­tung und die Fuss­ab­drücke auf dem Plan­eten, die nach unserem Ver­schwinden von uns zeu­gen wer­den? Ich ver­suche, mit ein­er Col­lage aus drei Quellen wieder ein­mal bei den Lesenden ein Kalei­doskop in Gang zu set­zen. Ein Spiel vielle­icht, vielle­icht, bei Spie­len nicht ganz unüblich, mit ern­stem Hin­ter­grund. Das «Zap­pen» ist ja eine beliebte Ver­hal­tensweise. Vielle­icht macht es bisweilen Sinn? Ein paar Quel­len­hin­weise: GROSSBUCHSTABEN: NZZ vom 1. Sept. 2009, Seite 26, Ug. (Paris); Kur­siv: NZZFOLIO, Juli 2009, Seit­en 16 bis 18, «Eine Ahnung von Apoka­lypse» von Peter Haffn­er; Nor­malschrift: «Der Bund» vom 8. August 2009, Seit­en 2 und 3, Inter­view von Rudolf Burg­er und Daniel Gold­stein mit dem Schrift­steller und Schama­nen Gal­san Tschi­nag: «Je ein­fach­er wir leben, desto glück­lich­er sind wir». In der Folge: Eine Blei­wüste, wie fast immer, aber kein Wort von mir, ausser­dem: Die Aus­sagen und Bilder entste­hen – auch wie immer – in ihrem Kopf.

«Der Men­sch ist ja für Schwierigkeit­en gut gerüstet, aber nicht so gut für das Glück:» AUCH EINE REZESSION WIRFT FRANKREICHS STAATSPRÄSIDENTEN, NICOLAS SARKOZY, NICHT SO LEICHT AUS DER BAHN. DIE KRISE VERHINDERT NICHT FRANKREICHS FÄHIGKEIT, INITIATIV ZU WERDEN. Seeleute haben einen Namen für die Kügelchen aus Plas­tik, die in unvorstell­baren Men­gen im Meer treiben: Trä­nen der Meer­jungfrau. Kapitän Charles Moore hat im Paz­i­fik einen neuen Kon­ti­nent ent­deckt, vier­mal so gross wie Deutsch­land. Lieber hätte er ihn nicht gefun­den. Cap­tain Moore ist ein Ent­deck­er, doch vom Kon­ti­nent, den er nach sein­er Paz­i­fik­fahrt 1997 beschrieb, will kaum jemand etwas wis­sen. Eine Müllde­ponie mit­ten im Ozean. «Wir glauben, wir sind ziem­lich frei.» «Gut, Sie haben Frei­heit, gewiss. Sie haben alles, Berge, Städte, Autos, Lebens­stan­dart, Wohl­stand, Frei­heit, Demokratie, Wahlen, Volksab­stim­mungen. Aber über­legen Sie sich manch­mal auch, was hin­ter alle­dem steckt? Ich möchte Sie nicht gegen den Staat aufmüp­fig machen. Ich bin ja sel­ber dreizehn Jahre lang Jour­nal­ist gewe­sen und habe oft­mals gedacht: Was für ein hohlwangiges, scheis­siges Jour­nal­is­ten­da­sein! Sie leben in einem anderen Land, in einem europäis­chen, in einem zivil­isierten Land. Aber die Mon­golei ist eine Sip­penge­sellschaft. Dort oder auch in den Nach­bar­län­dern, wür­den Sie es schw­er aushal­ten. Sie sind, nehme ich an, ehrliche Men­schen – und die haben es schw­er.» SPRACH’S UND SCHICKTE DIE KOMMISSION AUF DEN WEG, DIE MIT EINER MILLIARDENANLEIHE ZU FINANZIERENDE PROJEKTE ZUR SICHERUNG DER ZUKUNFT DES LANDES AUSFINDIG MACHEN SOLL. In Hon­olu­lu war er mit sein­er Crew in See gestochen und hat­te die Abkürzung durch die Ross­bre­it­en genom­men, die auf halbem Weg zwis­chen Hawaii und Nor­dameri­ka liegen. Seefahrer mei­den die Gewäss­er, eine Kon­ver­genz­zone, in der Wind­stille herrscht und man oft tage­lang keine Fahrt macht. «Hat sich beim Über­gang vom Kom­mu­nis­mus zur Demokratie denn nichts geän­dert?» «Äusser­lich schon, aber im Wesentlichen nicht: Die Unwahrheit wird für die Wahrheit gehal­ten. Und das Volk wird, jet­zt erst recht, in der Demokratie bewusst ver­dummt, durch die Zeitun­gen und das Fernse­hen.» UNGEKLÄRT SIND DIE DETAILS DIESES NEUEN «GRAND EMPRUNT NATIONAL», DER NICHT ZUM ALLGEMEINEN KRISENPROGRAMM GEHÖRT. Es dauerte eine Woche, bis sie durch waren. Sie fin­gen einen hun­dertpfündi­gen Thun­fisch, gril­lierten Steaks und kon­nten nicht glauben, was sie sahen: Über­all schwamm Plas­tik­müll herum, Flaschen, Deck­el, Tüten, Bruch­stücke von irgen­det­was. Bald pflügte sich die «Algui­ta» durch den Unrat wie ein Ark­t­is­fahrer durch Eistrüm­mer. Bal­lons, Hüllen, Sty­ro­por­bech­er, Waschmit­telka­nis­ter, Gewirre von Fis­chnet­zen und Angelschnüren, Schnipsel in allen For­men und Far­ben. «Mein Gefühl, dass hier etwas Entset­zlich­es vor sich ging, wurde immer stärk­er», sagte Moore. Er wusste nicht, dass Cur­tis Ebbesm­eye, ein Ozeano­graph aus Seat­tle, aus Stu­di­en der Meer­esströ­mungen auf diesen «Garbage Patch» geschlossen und ihn so benan­nt hat­te. «Das ist ein betrüblich­er Befund. Woran fehlt es denn?» «Am men­schlichen Wesen. Wir Men­schen sind unvol­lkom­men. Nun gut – in Europa gibt’s vol­lkommene Men­schen, das sehe ich am Fernse­hen: Die lachen ja alle. Aber wenn sie immer nur lachen ist das verdächtig. Das haben Rotchi­na und Europa gemein­sam: Es dür­fen der Weltöf­fentlichkeit nur lachende Men­schen gezeigt wer­den, mit ent­blössten Zäh­nen.» Angetrieben von Winden und Erdro­ta­tion, bilden die Meer­esströ­mungen im Hochdruck­ge­bi­et des «North Pacif­ic Gyre» einen gigan­tis­chen Wirbel, der sich im Uhrzeigersinn dreht und Treibgut sam­melt von den Küsten Japans und Chi­nas sowie der Paz­i­fikküste von Mexiko, Nor­dameri­ka und Kana­da. «Sie haben ein anderes Bild vom Men­schen.» «Wir Men­schen sind so unfer­tig, wie sollte es auch anders sein? Die Erde ist möglicher­weise fün­fzehn Mil­liar­den Jahre alt, und das älteste Kunst­werk, die Venus, die man kür­zlich gefun­den hat, etwa vierzig­tausend Jahre. Die Men­schheit ist also ein ganz neues Gewächs; wir müssen noch wer­den, wir sind noch grün. Wir ste­hen am Anfang.» Was er gese­hen hat, ist nur die erste Sta­tion in ein­er Reise in jene Welt, in der dieses bunte, glänzende und so prak­tis­che Plas­tik endet; in den Mägen von Vögeln und Fis­chen, bald wom­öglich in uns sel­ber in Form von Nanopar­tikeln aus Fis­chen und Meer­frücht­en, die wir essen. «Und es ist fraglich, wie lange es uns noch gibt.» «Der Hofas­trologe der Queen, ein Pro­fes­sor, hat tausend Pfund gewet­tet, dass wir das ein­undzwanzig­ste Jahrhun­dert nicht über­ste­hen wer­den. Er sagte, er hoffe zu ver­lieren, wisse aber, dass es so nicht weit­erge­hen könne. Die Indus­trie boomt, aber schauen Sie, wie viel wir damit zer­stören und wie wir unsere men­schlichen Urfähigkeit­en ver­lieren. Unsere Kinder und Kinde­skinder wer­den nicht in der Lage sein, sich in der Natur zurechtzufind­en, wenn sie ein­mal aus­ge­set­zt wer­den wie alternde Zootiere.» «Das ist eine pes­simistis­che Sicht der Dinge.» «Nein, nicht pes­simistisch, real­is­tisch.» UND SARKOZY SCHAFFT SICH EIN SCHÖNES INSTRUMENT FÜR SEIN STECKENPFERD DER INDUSTRIEPOLITISCHEN INTERVENTION. In Teilen des Ozeans ist die Wahrschein­lichkeit gröss­er, dass ein Fisch Plas­tik frisst als richtige Nahrung. Da Plas­tik biol­o­gisch nicht abbaubar ist, ver­schwinden die Par­tikeln nicht, son­dern wer­den nur immer klein­er. Solch­es «Mikro­plas­tik», fürs blosse Auge nicht sicht­bar, kon­nte Thomp­son im Kreis­lauf von Muscheln, Seep­ock­en und Kiemen­ringel­würmern nach­weisen. «Sie stellen das Wirtschaftswach­s­tum in Frage.» «Ja. Selb­st die Pflanzen wer­den zum Wach­s­tum hochgepeitscht. Wir in der Mon­golei sind Pes­tiziden aus Rus­s­land und Chi­na aus­ge­set­zt. Dort machen sie immer grössere und schönere Äpfel, aber die schmeck­en nach nichts. Dabei heisst das Zauber­wort Bio. Ger­ade Europa macht da ziem­lich grosse Fortschritte, aber Asien, woher ich komme, will davon nichts wis­sen. Wir Men­schen scheinen unbelehrbar zu sein. Mich macht es wütend: Wir sehen, was Europa und Ameri­ka falsch gemacht haben und kön­nten unseren eige­nen Weg gehen, aber das tun wir nicht.» Es wird eine Ewigkeit dauern, bis die Evo­lu­tion Mikroor­gan­is­men her­vorge­bracht haben wird, die das Mate­r­i­al ver­dauen. Selb­st wenn die Plas­tikpro­duk­tion mor­gen gestoppt würde, müsste der Plan­et mit Umwelt­fol­gen für Tausende von Jahren rech­nen – auf dem Ozean­bo­den, wohin etwa PET-Flaschen rasch sinken, gar mit Zehn­tausenden.

ensuite, Okto­ber 2009