Von Noémie Delfgou — Kurz nach der Premiere von Woyzeckmaschine präsentiert PENG! Palast bereits ihr neues Stück «Götter der Stadt oder Die 120 Tage von Sodom», welches im Herbst im Schlachthaus Theater auf die Bühne kommt. Im Roman «Die 120 Tage von Sodom» von Marquis de Sade werden detailreich literarisch Sexorgien beschrieben. Er löste zu Zeiten der französischen Revolution einen Skandal aus und begründete gleichzeitig den Begriff Sadismus. Die Regisseure Dennis Schwabenland und Benjamin Spinnler von PENG! Palast wagen sich nun in einer Doppelregie an diesen Stoff. Sie verweigern sich jedoch einer sexistischen Bühnenadaption, vielmehr interessiert sie dabei die Perversion als inszenierte Phantasie. Was ist Perversion im Alltag und wer definiert, was pervers ist? Wie die Regisseure von PENG! Palast an diesen Roman herangehen und was dieser Stoff mit ihnen persönlich zu tun hat, erklären sie gleich selbst im Interview.
Ihr habt eine Vorliebe für die grossen Dramatiker wie Shakespeare (HamletMASSIV) und Büchner (Woyzeckmaschine). Jetzt wagt ihr euch an Marquis de Sades «Die 120 Tage von Sodom». Wie entstand diese Stoffwahl?
BS: Wir kamen auf de Sades «Die 120 Tage von Sodom», weil wir uns mit Formen von Perversion beschäftigt haben. Wer definiert, was Perversion ist? Wer gibt die Massstäbe für Perversion vor, wie Politik, Kirche, Gesellschaft? Wer definiert die menschliche Moral?
DS: Die Stoffwahl hat auch einen persönlichen Hintergrund, wie immer bei einer Stückwahl von uns. Wir begegnen Themen wie Geschehnissen, die uns oder unseren Familien passieren und suchen nach Mitteln, diese auszudrücken. Zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Unterdrückung oder Machtspiele.
Das heisst, ihr inszeniert keine Sexorgie auf der Bühne?
DS: Wir fragen uns, was Perversion im Alltag ist und wo sie heute vorkommt. Nicht nur im sexuellen Sinne, sondern auch in der Politik, in der Moral, im Leben.
Habt ihr das Buch «Die 120 Tage von Sodom» tatsächlich fertig gelesen?
BS: Ja, natürlich. Es war schwierig. Wir mussten uns ziemlich durchbeissen. Die sexuelle Perversion nimmt darin kein Ende. Das Buch hat eigentlich gar keine Geschichte. Es hat sich dann aber die Frage herauskristallisiert, ob Perversion nicht sogar notwendig ist, um einen funktionierenden Bestandteil dieser Gesellschaft sein zu können und ob sie die Leistungsgesellschaft nicht sogar fördert.
Habt ihr schon konkrete Ideen, diese Ansätze auf die Bühne zu bringen?
BS: Wir arbeiten immer sehr biografisch und wollen, dass jeder Schauspieler bei sich beginnt. Wir versuchen aus unserem biografischen Hintergrund zu erkennen, was wir als Perversion empfinden. Dieser Prozess ist sehr individuell und daher ist es auch so spannend. Was sind die Massstäbe? Wer definiert Perversion?
Wir arbeiten mit Improvisation, persönlichen Interviews und Texten der Schauspieler, die dann für die Bühne adaptiert werden.
DS: Wir versuchen dieses grosse Thema Perversion auch etwas herunterzubrechen, da der Begriff sehr abstrakt ist. Unter Perversion verstehen wir inszenierte Phantasie. Diese Ansicht versuchen wir auf der Bühne natürlich auf die Spitze zu treiben.
BS: In jedem Menschen ist in irgendeiner Weise Perversion vorhanden. Doch wann darf man urteilen? Wann darf man sich über andere stellen? Wann darf man die eigene Perversion als normal erachten?
DS: Man muss die Perversion definieren. Dies kann man sehr gut über Phantasie.
«Götter der Stadt oder Die 120 Tage von Sodom» kommt im Herbst auf die Bühne. PENG! Palast gibt es seit zwei Jahren, jetzt kommt schon das vierte Stück. Ihr seid auf einem rasanten Weg, wie macht ihr das?
BS: Prinzipiell haben wir einfach Lust zu spielen. Wir geniessen die Arbeit in der freien Szene, wir können unseren Inhalten, unserem Anspruch gerecht werden und dem nachgehen, was uns im Leben interessiert. Das ist ein riesiger Luxus und Antrieb.
DS: Wir haben viel zu sagen. Die Chance hat man nicht oft, als junger Mensch seine Schnauze aufmachen zu dürfen. Wir arbeiten ehrlich und zeigen, was aus unserem Herzen kommt, das interessiert auch die Leute.
BS: Sobald wir persönlich werden, sind wir politisch. Wir machen zwar kein politisches Theater, aber wir haben etwas zu erzählen, und das können wir in den Projekten auf die Spitze treiben und bringen, was uns kitzelt zum Brennen.
DS: Dieses Sichtbarmachen ist ganz wichtig. Wenn man politisch denkt, verschwindet man erstmals hinter Statistiken und Zahlen. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, da gibt es bis zu 20 Prozent Arbeitslose. Diese Zahlen lösen bei mir zuerst gar nichts aus. Aber auf der Bühne, wie bei «HamletMASSIV», sieht und riecht man diese abstrakten Zahlen. Dann werden sie auch für ein Publikum spürbar und greifbar, eben sichtbar.
Jetzt im neuen Stück führt ihr beide Regie und spielt gleichzeitig mit. Wie bringt ihr das unter einen Hut?
BS: Diese Doppelregiespielposition hatten wir schon bei «HamletMASSIV». Es ist eine grosse Belastung, in den Proben Regie und Schauspiel zu trennen, aber wir haben einige Vertrauenspersonen, die von aussen die Szenen betrachten. In der Vergangenheit lief das ganz gut. Die Leute, denen wir vertrauen, bringen auch viel in die Proben mit ein, wie zum Beispiel Raphael Urweider.
DS: Grundsätzlich gibt es ja bei PENG! Palast keine Regie. In unserer Projektarbeit bringt sich jeder ein. Doch Benjamin und ich treffen die szenischen Entscheidungen über das Material, was funktioniert und was funktioniert nicht. Zu demokratisch kann man im Theater leider nicht sein. Jeder hat eine andere Ästhetik. Raphael Urweider ist bei diesem Projekt als Dramaturg dazu gestos-sen, der auch zusammen mit uns diese Entscheidungen treffen wird. Dieser Blick von außen wird besonders in der Schlussphase nochmals wichtig.
BS: Wir haben das Vertrauen, uns richtig streiten zu können. Da wir uns schätzen, können wir uns auch richtig fetzen. Dieser schonungslose Umgang miteinander ist für die Probenarbeit sehr wichtig. Wir wollen uns nicht einen Monat auf die Schultern klopfen, sondern wir sind auch bereit zu leiden und wollen dabei etwas Neues entdecken.
DS: Wir haben auch Grundsätze, die wir verfolgen. Aber zurücklehnen, das geht bei uns gar nicht, sondern alle müssen immer voll dabei sein. Da ist es auch gut, wenn man zu zweit arbeitet. Wenn einer einen Hänger hat, wird er vom anderen gepusht. Da gibt es keine Phasen, in denen man sich ausruht.
Das Stück «Götter der Stadt oder Die 120 Tage von Sodom» kam am 29. September 2010 im Schlachthaus Theater Bern auf die Bühne. Weitere Spieldaten am 1. und 2. Oktober 2010.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2010