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Was sich zeigt.

Von Eva Bertschy — Über das Gedenken an den Völk­er­mord in Ruan­da: Als am 6. April vor 17 Jahren das Flugzeug des ruan­dis­chen Präsi­den­ten kurz vor der Lan­dung von zwei Raketen getrof­fen wurde, bedeutete dies das Startsig­nal für den grausam­sten Völk­er­mord seit dem Ende des Kalten Krieges. Sei­ther gedenken die Ruan­der jedes Jahr in den Monat­en April, Mai und Juni während 100 Tagen der über 800›000 Opfer, ihrer ver­stor­be­nen Ange­höri­gen und Nach­barn. Im Zuge der Recherchen und Vor­bere­itun­gen für das aktuelle The­ater­pro­jekt des Inter­na­tion­al Insti­tute of Polit­i­cal Mur­der habe ich Ruan­da während diesen Tagen besucht, um darüber zu bericht­en.

Langsam fahren wir eine hol­prige, steile Strasse hoch. Immer wieder schla­gen Steine an die Unter­seite des Autos. Euka­lyp­tus­bäume zäu­men grau schillernd eine Schneise von rot­brauner Erde. Ein junger Mann stösst ein Fahrrad den Hügel hin­auf, auf dem Gepäck­träger eine Kiste Bier. Er kommt kaum bess­er voran als wir. Assump­ta und Nor­bert haben mich ein­ge­laden, mit ihnen an eine Gedenk­feier für die Opfer des Völk­er­mordes auf ihren Hügel in der Nähe von Byum­ba zu fahren, ein­er Region nördlich von Kigali. In Ruan­da beze­ich­nen die ver­schiede­nen Hügel Orte der Zuge­hörigkeit. Hat man ein­mal die Euka­lyp­tuswälder hin­ter sich gelassen, trifft man auf einen weit­ge­hend in sich abgeschlosse­nen Mikrokos­mos zwis­chen Bana­nen- und Mais­stau­den, bevölk­ert von weni­gen Fam­i­lien mit vie­len Kindern und ein paar Rindern, durch­zo­gen von schmalen Tram­pelp­faden, die sich ganz plöt­zlich zu den Vorgärten der Nach­barn hin öff­nen.

Assump­ta kehrte kurz nach dem Ende des Völk­er­mords aus dem Exil nach Ruan­da zurück. Nach allem was sie über die Geschehnisse in ihrem Land erfahren hat­te, war sie über­rascht in Kigali auf ihren jün­geren Brud­er Nor­bert zu tre­f­fen, dachte sie doch, alleine zurück­ge­blieben zu sein. Nor­bert hat­te in den Rei­hen der Rebel­len­armee gekämpft, die mit ihrem Sieg gegen die Regierungstrup­pen den Völk­er­mord been­det hat­te. Als die bei­den Geschwis­ter gemein­sam auf den Hügel zurück­kehrten, wo sie aufgewach­sen waren, fan­den sie dort die men­schlichen Über­reste ein­er ihrer Tan­ten und ihrer bei­den Cousi­nen im Wald vor dem Dor­fein­gang zwis­chen unzäh­li­gen anderen acht­los hinge­wor­fen. Am 11. April 1994 waren die Inter­a­hamwe, die jugendlichen Milizen der Hutu-Pow­er-Parteien, auf diesem Hügel einge­fall­en und hat­ten inner­halb weniger Tage sin­gend und mit blank glänzen­den Macheten mit der Hil­fe viel­er ein­heimis­chen Hutus über 300 Tut­sis und als Kol­lab­o­ra­teure verdächtigte Hutus den Tod gebracht. Sei­ther hat­te nie­mand gewagt, die Leichen am Wegrand wegzuräu­men. Unter feind­seli­gen Blick­en begruben Assump­ta und Nor­bert die einzi­gen Ange­höri­gen, die sie wiederge­fun­den hat­ten auf dem Grund­stück ihrer Fam­i­lie. Jedes Jahr am 11. April kehren sie, um ihrer Fam­i­lie zu gedenken, auf dieses Grund­stück zurück, das inzwis­chen von ein­er Nach­barin wieder bebaut wird. Vom Haus ihrer Fam­i­lie ist einzig eine Zis­terne übrig geblieben.

«Ihr ste­ht hier stumm um dieses Grab, als ob wir dies von Euch erwarten wür­den, anstatt uns endlich zu erzählen, wie Ihr unsere Fam­i­lien umge­bracht habt!» begin­nt Nor­bert seine Grabrede mit sicher­er Stimme und blickt in eine Rei­he wohlbekan­nter Gesichter. Seit ihrer ersten Rück­kehr auf diesen Hügel arbeit­en Nor­bert und Assump­ta gegen das Unsag­bare, das die Opfer und die Täter unter den Zuhören­den zusam­men­rückt und die bei­den Zurück­gekehrten für immer auss­chliesst. Dabei reden die Ruan­der oft und aus­führlich über den Völk­er­mord – ins­beson­dere während den 100 Tagen im Früh­jahr, der offiziellen Gedenkzeit. Im Fernse­hen und im Radio wer­den rund um die Uhr Berichte der Über­leben­den neben Pop­songs zum Gedenken an die Opfer gesendet. In den Kul­tur- oder Gemein­dezen­tren find­en jeden Nach­mit­tag Sitzun­gen statt, wo unter Nach­barn die Ereignisse von 1994 in diesem Vier­tel oder auf jen­em Hügel im gle­ichen Atemzug wie die poli­tis­chen Erfolge der aktuellen Regierung disku­tiert wer­den. Wenn der Präsi­dent an der Gedenk­feier im Ama­hor­ro-Sta­dion in der Haupt­stadt seine alljährliche Rede hält, würde man meinen, es wäre eine Bagatelle, eine Geschichte wie diesen Völk­er­mord hin­ter sich zu lassen. Er spricht wohl bedacht, monot­on, gefasst, und legt nach jedem Wort eine kurze Pause ein, um dem Gesagten Nach­druck zu ver­lei­hen. Wenn man in dieses Land kommt, ist man dankbar für diese Gefass­theit, die über Ruan­da eingekehrt ist. Man ist dankbar und beein­druckt. «Die Ver­söh­nungspoli­tik Ruan­das war erfol­gre­ich­er als wir uns dies vor 17 Jahren hät­ten erhof­fen kön­nen!»

Während ich diesen Worten auf den Trep­pen des Sta­dions sitzend zuhöre, ertönt dicht hin­ter mir ein Wim­mern, das immer lauter wird, bis ein gleis­sender Schrei das ganze Sta­dion aus­füllt. Der Präsi­dent spricht weit­er, wohl bedacht, monot­on, gefasst. Mir ist, als würde ich etwas belauschen, das nicht für meine Ohren bes­timmt ist, etwas allzu intimes, das am falschen Ort auftritt. Die Schreie vervielfachen sich. Eine Frau wird von zwei San­itätern aus dem Sta­dion getra­gen. Hier tritt etwas für einen kurzen Moment an die Ober­fläche, das son­st ver­bor­gen bleibt. Die Ereignisse, die für mich trotz all den Diskus­sio­nen, Zeitzeu­gen­bericht­en und Orts­bege­hun­gen immer selt­sam abstrakt bleiben, kehren für andere in diesen Tagen in quälen­der Gestalt zurück. Je mehr ich über diesen Völk­er­mord lese, desto mehr ent­gleit­en mir die dama­li­gen Ereignisse. Jed­er Ver­such etwas davon festzuhal­ten, muss sich damit beg­nü­gen, das wenige nachzuze­ich­nen, was davon an die Ober­fläche tritt, als Schrei oder als Erzäh­lung.

Einen solchen Ver­such untern­immt das Inter­na­tion­al Insti­tute of Polit­i­cal Mur­der (IIPM), dessen let­ztes Stück Die let­zten Tage der Ceaus­es­cus Anfang 2010 in Bern und Zürich zu sehen war, in seinem aktuellen Pro­jekt. Unter dem Titel Hate Radio untern­immt das IIPM ein Reen­act­ment ein­er Sendung von Radio-Télévi­sion Libre des Milles Collines (RTLM). Von den Parteien der Hutu-Pow­er als Pro­pa­gan­dam­as­chine gegrün­det und gestal­tet, spielte RTLM eine entschei­dende Rolle sowohl in der Vor­bere­itung als auch in der Durch­führung des Völk­er­mords in Ruan­da. Das Pro­gramm bestand aus beliebter Pop-Musik, pack­enden Reporta­gen und Talk­shows. Ganz beiläu­fig wur­den zwis­chen den täglichen Nachricht­en die Sol­dat­en der Rebel­len­armee und ihre mut­masslichen Kol­lab­o­ra­teure im Lan­desin­neren als Kak­er­lak­en beze­ich­net, die das Land und das Ver­mächt­nis der Hutu-Rev­o­lu­tion bedro­ht­en. Als das grausame Töten Anfang April los­ging, gin­gen die ras­sis­tis­chen Kom­mentare in explizite Mor­daufrufe über. Die heute noch ver­füg­baren Audiodoku­mente dieser Sendun­gen zeu­gen von ein­er allmäh­lichen Ent­men­schlichung der Opfer und ein­er Radikalisierung der Täter. Wie ein Sound­track begleit­eten damals die Lieder von Simon Bikin­di und die Stim­men der Mod­er­a­toren Kan­tano Habi­mana oder Valérie Bemeri­ki den Völk­er­mord und klin­gen heute auf eine unheim­liche Weise nach. Nun wird das 1994 von der Rebel­len­armee zer­störte Radios­tu­dio auf der Grund­lage von Bericht­en der dama­li­gen Mod­er­a­toren und Doku­menten nachge­baut, die Radiosendun­gen von ruan­dis­chen Schaus­piel­ern nachge­sprochen. Indem sie die Stim­men und Gesten der Mod­er­a­toren nachze­ich­nen und die Lieder des Völk­er­mords erneut spie­len, machen sie ver­füg­bar, was während den Monat­en im April an der Ober­fläche wucherte, für jeden laut hör­bar, wie ein Wider­hall oder eine böse Vorher­sage der­jeni­gen Ereignisse auf den Hügeln von Ruan­da.

Nor­bert erin­nert sich daran, wie sie an der Front die Sendun­gen von RTLM hörten. «Wir lacht­en über Kan­tano, als er über uns, die Sol­dat­en der Rebel­len­armee, sagte, wir wären auf den Hügeln im Hin­ter­land damit beschäftig, Bana­nen zu fressen, während wir kurz davor standen, Kigali einzunehmen. Als wir jedoch in Kigali ein­zo­gen und durch die Strassen gin­gen, die von Leichen­haufen gesäumt waren, wurde uns schla­gar­tig bewusst, dass das, was er über all die toten «Kak­er­lak­en» auf den Hügeln jen­seits der Front sagte, dur­chaus der Real­ität entsprach.»

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2011